Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Hinderliche Rotationsmaschinen

d'Lëtzebuerger Land vom 16.07.2021

In einer ganzseitigen Anzeige hieß es am 30. Juni im Luxemburger Wort: „Wir sind umgezogen. Liebe Leser, ab sofort finden Sie uns an unserem neuen Standort.“ Die Zeitung, die seit 1906 im Bahnhofsviertel produziert wurde, ließ 1976 einen protzigen Firmensitz in Gasperich errichten. Nun ist die nach einer Entlassungswelle verringerte Redaktion in ein Howalder Bürogebäude umgezogen. Damit auf dem Grundstück der Druckerei in Gasperich Büros und Wohnungen gebaut werden können. Noch steht die schwere Rotationsmaschine im Weg.

Ebenfalls am 30. Juni meldete das Tageblatt in einer ganzseitigen Anzeige: „Jetzt empfängt Sie das Tageblatt in seinen neuen Räumlichkeiten.“ Der Verlag musste seinen 1939 bezogenen Sitz in der Kanalstraße aufgeben. Damit auf dem Grundstück Büros, Wohnungen und Parkplätze gebaut werden können. Die Redaktion lebte einige Zeit ohne festen Wohnsitz. Nun hat sie provisorisch Büros im Kaufhaus Belval Plaza. Seit Jahren sollte sie in die Druckerei von Esch-Sommet weiterziehen. Aber über die Zukunft des Blatts wird verhandelt.

Ein Jahr lang suchte das Lëtzebuerger Journal einen Käufer für seine Redaktionsbüros im hauptstädtischen Bahnhofsviertel. Dieser Tage fand es einen. Es konnte seine Leserinnen und Leser nicht mit einer ganzseitigen Anzeige informieren. Denn zum Jahresanfang hatte die Zeitung den Druck eingestellt. Sie existiert seither nur noch im Internet. Die Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek musste schon vor mehr als 20 Jahren ihren Gaspericher Sitz räumen und in ein Escher Wohnhaus ziehen.

Die Immobilienpreise steigen weiter. Wer es sich leisten kann, behält seine Immobilien und schaut zu, wie sie teurer werden. Nur wer dringend Geld braucht, verkauft. So ergeht es der Tagespresse. Das Geschäft mit Grundstücken ist rentabler als mit Anzeigen und Papier. Die Informationsgesellschaft löst sich in Immobiliengesellschaften auf.

Seit dem 1. Januar 1845 gibt es hierzulande Tageszeitungen. Sie spielten stets eine herausragende Rolle in der politischen Debatte. Sie waren oft eng mit politischen Parteien verbunden. Sie waren das Herzstück einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Als anstelle der Stempelsteuer Werbung und später Pressehilfe kamen, konnten sich Leute mit niedrigen Einkommen eine Tageszeitung leisten. Oder sie zumindest im Wirtshaus lesen. Es entstanden sogar Tageszeitungen, die die Interessen der klein gehaltenen Leute ansprachen.

Das soll nicht so bleiben. Die Tageszeitungen ziehen sich zurück: vom traditionsreichen Firmensitz nun in anonyme Büros und danach wohl ins Internet. Dort stehen keine Rotationsmaschinen mehr den Immobilienprojekten im Weg. Die liberale Koalition nutzt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für eine politische Säuberung: Zur selben Zeit, als die Redaktionen umziehen mussten, verabschiedete das Parlament mit 52 von 60 Stimmen eine Reform der staatlichen Pressehilfe.

Die Reform drängt die Presse nicht bloß ins Internet. Nach den Berechnungen des Presserats steigen unter allen Tageszeitungen nur die Zuschüsse an das rechte Luxemburger Wort. (Zusatzgutachten 7631.10, S. 4). Deshalb stimmte sogar die CSV für das Gesetz. Vielleicht auch nur, weil die Reform von Anfang an auf Kosten des Tageblatts gehen sollte.

Den linken Blättern Tageblatt und Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek hilft die neue Pressehilfe nicht. Sie sollen einige tausend Euro verlieren. Der Tageblatt-Halbbruder Le Quotidien bekommt nach einer Übergangsfrist eine halbe Million weniger. Das dürfte er nicht überleben.

Zum Trost für Editpress ist die Gratiszeitung L’Essentiel die größte Gewinnerin der Reform. Das ist ein Wink an OGBL und LSAP, die sozialdemokratische Gewerkschaftspresse zu begraben. Sie sollen lieber Geld mit ihrem Anzeigenblatt verdienen. Das Kalkül ist OGBL und LSAP nicht fremd. Am Ende diente die Reform der Pressehilfe dann dem liberalen Nation Rebranding im globalen Wettbewerb.

Romain Hilgert
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