Lionel Fontagné und die Produktivitäts-Debatte

Zu Risiken und Nebenwirkungen

d'Lëtzebuerger Land vom 04.03.2010

Seit der französische Wirtschafts­professor Lionel Fontagné vor drei Wochen im Paper-Jam-Business-Club auftrat, tobt sie wieder: Die Debatte um die Produktivität in Luxemburg. Denn Fontagné fachte die Auseinandersetzung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden bei seinem Gastantritt mit voller Absicht wieder an. Fragt sich nur, mit welcher Absicht und ob die Diskussion nicht eigentlich ein Sturm im Wasserglas ist.

Hochgekocht war der Dauerbrenner bereits im Herbst 2009. Damals legte das Observatoire de la Compétitivité seine Bilanz für das Jahr 2008 vor und stellte fest, dass die Produktivität, also der Indikator, der zeigt, wie viel Arbeitseinheiten zur Produktion eines Gutes oder einer Dienstleistung gebraucht werden, im Beo­bachtungszeitraum erheblich gesunken war. Insgesamt standen die Zeichen im Indikatorenblock „Produk-tivität und Arbeitskosten“ ziemlich deutlich auf Rot. Arbeitnehmerverbände und Wirtschaftsminister beweinten den dadurch entstehenden Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. Zwar sei die Produktivität in Luxemburg noch hoch, doch die Entwicklung sei im Vergleich zu den Nachbarländern schlechter, hieß es damals.

Die Arbeitnehmerkammer (CSL) ließ sich nicht lange bitten und erklärte, diese negative Entwicklung sei auf einen rein mechanischen Effekt zurückzuführen. Sinkt das Volumen des Bruttoinlandproduktes (BIP), also der produzierten Güter und Dienstleistungen, bei gleichbleibender Beschäftigung, verschlechtere sich die Produktivität automatisch, erklärte die CSL. Denn der Arbeitsmarkt – darin stimmen andere Beobachter überein – hinkt der konjunkturellen Entwicklung immer hinterher. Während also 2008 weniger Güter und Dienstleistungen produziert wurden, stieg die Zahl der Arbeitnehmer, durch die man das BIP teilen muss, noch an. Die Produktivität, fügte die CSL hinzu, sei ein rein konjunktureller Indikator und deswegen ungeeignet. Nichts anderes hatte das Observatoire behauptet. Allerdings basierten seine Berechnungen auf alten, schlechten BIP-Prognosen, Prognosen, welche die Kollegen vom Statec wenige Tage nach der Vorstellung der Bilanz revidierten und um fast einen Prozentpunkt anhoben. Entsprechend besser hätte die Auswertung ausfallen müssen, kritisierte die CSL mit der ihr eigenen Vielfalt an Ausrufezeichen und Fettgedrucktem. An der Tendenz für 2008 änderte das allerdings nichts.

In dieser aufgeheizten Stimmung trat Lionel Fontagné an, um ein Update seiner bisherigen Arbeit über die Wettbewerbsfähigkeit Luxemburgs zu präsentieren. Er lobte zu allererst das Luxemburger Modell und die Fähigkeit und die Angewohnheit der hiesigen Sozialpartner, sich auf technischer Ebene mit den Problemen der Luxemburger Wirtschaft auseinanderzusetzen, bedauerte aber, dass sich das Diskus-sionsklima seit seinem Bericht 2004 merklich verschlechtert habe. Mit der ihm eigenen Autorität des Sorbonne-Professors erklärte er, die Diskussion um die Produktivität müsse eigentlich ganz anders geführt werden, und belächelte implizit die Bemühungen der CSL, dem Observatoire, das auf seine Empfehlungen aus dem Jahr 2004 hin entstand, Fehler nachzuweisen. Denn nicht allein die Produktivität der Arbeit(nehmer) müsse in Betracht bezogen werden, sondern auch die des für die Produktion eingesetzten Kapitals. Der wichtige Indikator sei demnach die totale Faktorproduktivität (TFP), die also misst, wie wirksam Arbeit und Kapital im Herstellungsprozess sind. Ein Beispiel: Ein Arbeiter, der Schrauben eindreht, kann das mit einem herkömmlichen Schraubenzieher tun und schafft eine gewisse Anzahl innerhalb von einer Stunde. Stellt ihm sein Arbeitgeber einen elektrischen Schraubenzieher zur Verfügung, schafft er eine viel größere Anzahl, doch sein Werkzeug ist teurer geworden, der Prozess kapitalintensiver.

Fontagné rechnete vor: Die Entwicklung der TFP in Luxemburg sei im Verhältnis zum europäischen Durchschnitt seit 2000 denkbar schlecht gewesen. Der Professor umriss außerdem das von ihm für das statistische Amt Statec ausgearbeitete Luxembourg Structural Model, ein Modell der Luxemburger Wirtschaft, das es erlauben soll, die Auswirkungen von Strukturreformen zu simulieren. Resultat seiner Simulation: Damit die Luxemburger Wirtschaft wieder fit werde und wachse, müssten sowohl die Sozialbeiträge, wie auch die Arbeitslosenunterstützung gesenkt werden, die Unternehmen würden im Gegenzug mehr Wettbewerb in Kauf nehmen. So würden die Unternehmen finanziell entlastet, die Preise würden sinken und es könne ein größerer Teil der Gewinne an die Arbeitnehmer verteilt werden, deren Kaufkraft dadurch steige. Eine positive Spirale des internen Verbrauchs würde entstehen, die Wirtschaftsleistung wieder steigen.

Die Aufregung auf Arbeitnehmerseite war entsprechend groß. Warum Fontagné ausgerechnet jetzt während der Vorbereitung der Tripartie-Gespräche auftauche, regten sich Gewerkschaftsvertreter auf – natürlich mit schlechten Nachrichten über die Luxemburger Wettbewerbsfähigkeit im Gepäck, durch die sich die Arbeitgeber in ihren Forderungen kurz vor den Verhandlungen gestärkt sehen. Außerdem, schrieb die Arbeitnehmerkammer, werde hier einfach der Indikator gewechselt, wenn der, auf den man bisher gepocht habe, nicht mehr in die Richtung zeige, die einen arrangiert. Denn über einen längeren Zeitraum betrachtet, zeigte die CSL auf Basis ihrer eigenen Berechnungen im Econews 1/2010, beispielweise ab 1995, steige die Produktivität der Arbeitnehmer in Luxemburg kontinuierlich. Auch der Beobachtungszeitraum im Bezug auf die TFP sei von Fontagné mit Absicht so gewählt – ab 2000 –, dass das Resultat denkbar schlecht ausfalle, legte die CSL in einem zweiten Econews vergangene Woche nach, weil sich so nicht nur die aktuelle Krise, sondern auch die in den Jahren 2001 bis 2003 nach dem Platzen der Internet-Blase negativ im Indikator niederschlugen.

Zudem – und darin liegt die fundamentalere Kritik – lenke Fontagné die Aufmerksamkeit auf einen höchst unzuverlässigen Indikator. Unzuverlässig ist die totale Faktorproduktivität als Indikator einerseits, weil sie prozyklisch reagiert, das heißt, sich in Zeiten des Abschwungs, wenn weniger Güter und Dienstleistungen produziert und verkauft werden, – ähnlich wie oben beschrieben – automatisch negativ entwickelt, aber nichts über die Faktoren Kapital und Arbeit aussagt: Weder verliert der Arbeiter die Fähigkeit, Schrauben einzudrehen, noch versagt automatisch der Schraubenzieher den Dienst. Andererseits ist die TFP mit Vorsicht zu genießen, weil es im Dienstleistungs- und Finanzsektor – den führenden Branchen der Luxemburger Wirtschaft – anders als in der Industrie äußerst schwierig ist, die Produktivität zu messen, sowohl die des Kapitals, wie auch die der Arbeit. Was gehört zum Kapitalbestand, der in die Berechnung mit einfließt und wie viel trägt er zur Produktivitätssteigerung beziehungsweise zum Produktivitätsverlust bei? Die Immobilie, in der beispielsweise die Bank untergebracht ist, der Computer, an dem Bankangestellte arbeitet, der Stuhl, auf dem er sitzt?

Die Methoden der verschiedenen internationalen Institute gehen auseinander. Und, so wirft die CSL Fontagné vor, er habe sich genau die Methode und Datensätze ausgesucht, nach der sich die TPF der Luxemburger Wirtschaft im Vergleich zu anderen Wirtschaftsräumen besonders schlecht entwickele: Ameco. Die der Generaldirektion der europäischen Kommission für Wirtschaft und Finanzen. Und nicht, wie Fontagné selbst sagt und schreibt, die Daten des europäischen Statistikamtes Eurostat, denn die stünden derzeit überhaupt nicht zur Verfügung. Die Ameco-Datensätze aber seien, wie die CSL hervorstreicht, vom nationalen Statistikamt Statec nicht bestätigt. Kann sich ein renommierter Wirtschaftsprofessor derart in den Quellennachweisen irren? Wenn ja, ist diese Ungenauigkeit zumindest peinlich. Vor allem aber unterlässt Fontagné jeden Hinweis auf die mit den Daten verbundene Unsicherheit und die zweifelhafte Aussagekraft der TPF, die im Rahmen eines wissenschaftlichen Essays geboten wäre. Im Gegenteil: Die Frage, welches Messinstrument man für die Wettbewerbsfähigkeit zurückbehalten soll, beantwortet er eindeutig mit: „La productivité qui importe est donc la productivité globale des facteurs (...) Si l’on accepte l’idée qu’au final la compétitivité d’une économie est sa productivité, il est donc intéressant d’examiner l’évo­lution de la productivité globalbe des facteurs du Luxembourg (...).“

Dies ist nicht der einzige Punkt, an dem Zweifel an der wissenschaftlichen und strategischen Vorgehensweise Fontagnés geboten sind. Denn er unterließ bei seiner Vorstellung auch den Hinweis darauf, dass die Statec-Daten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (comptes nationaux) für die Jahre 2007, 2008 und 2009, auf die er sich zur Berechnung der Anteils der Lohmasse am PIB und der Lohnstückkosten stützte, noch nicht definitiv sind, die Resultate demnach nur unter der Voraussetzung, dass keine Korrekturen kommen, so ausfallen, wie Fontagné sagt. Ein Hinweis, der angesichts der angespannten Situation, des Zeitpunkts und vor allem des wissenschaftlichen Anspruchs und der Autorität, welche der Professor seinen Thesen verleiht, geboten gewesen wäre.

Außerdem weist er nicht aus, ob die Ergebnisse seiner Simulation, aus denen seine Reformvorschläge an die Tripartite hervorgehen, einer kritischen wissenschaftlichen Validation unterzogen wurden, bevor sie veröffentlicht wurden. Würden andere Modelle – und davon gibt es einige, sowohl beim Statec wie bei der Zentralbank – zu ähnlichen Ergebnissen kommen? Möglich ist es. Doch dadurch, dass der Professor Annahmen als Fakten präsentiert und seinem Sprachgebrauch die Vokablen „angenommen“ und „vorausgesetzt“ kaum vorkommen, setzt er sich selbst der Kritik aus. Wie er das auch durch das Timing seines sehr öffentlichen Auftrittes macht.

Denn das LSM wurde bereits im Dezember in der Veröffentlichungsreihe Perspectives de politiques économiques vorgestellt und auch die Reformsimulation findet sich in einigen Powerpoint-Presentationen für jedermann zugänglich im Netz wieder, mit verschiedenen Datumsangaben aus dem Jahr 2009. So weilt Lionel Fontagné regelmäßig in Luxemburg – doch erst sein letzter Auftritt führte dazu, dass er Anfang dieser Woche im Wirtschafts- und Finanzausschuss der Abgeordnetenkammer vorsprach. Ob seine Vorstellung dort mehr Nuancen ent­hielt? Denn die eigentliche Gefahr liegt nicht darin, dass der französische Wirtschaftsprofessor das Aufstellen von Indikatoren und Benchmarks für die Luxemburger Wirtschaft vorantreibt und neue Modelle entwickelt, um diese Wirtschaft darzustellen, sondern darin, dass er anders als die Pharmaindustrie nicht ausreichend auf die Risiken und Nebenwirkungen seiner Produkte hinweist und die Indikatoren deswegen auch auf politscher Ebene nicht ihrem tatsächlichen Wert entsprechend eingeschätzt werden können. Und er, bewusst oder unbewusst, nicht nur zur Steigerung der „crispations sociales“ beiträgt, die er selbst bedauert, sondern auch dazu, dass sehr viel Energie auf die Analyse der Indikatoren verwendet wird anstatt auf die Missstände, auf die sie eventuell hinweisen.

Michèle Sinner
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