Nach einem Verkehrsunfall ist Rigobert Rink schwer gelähmt. Heute macht er anderen Menschen Mut, ihr Leben trotz Schicksalsschlag so autonom wie möglich zu gestalten

Rigos zweites Leben

Zur Entspannung schreibt und malt Rigobert Rink
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 03.01.2020

Alle paar Minuten zischt es. So als würde irgendwo in dem halbdunklen Zimmer im Foyer La Cerisaie Luft entweichen. Vor dem großen Fenster ist das Gras mit Herbstblättern voller Raureif bedeckt. „Die Matratze hat fünf Kammern, die abwechselnd mit Luft gefüllt werden“, erklärt Rigobert Rink und deutet mit dem massigen Kinn in Richtung der Maschine am Fußende des Bettes. Der so erzeugte Wechseldruck ist für sein Wohlbefinden unverzichtbar. Andernfalls würde er vom vielen Liegen Druckgeschwüre bekommen.

Rigobert Rink ist seit einem schweren Verkehrsunfall vom vierten Halswirbel abwärts gelähmt. Tetraplegie (C4/C5) ist der medizinische Ausdruck dafür. Seine linke Hand, die auf der blauen Sternen-Bettdecke liegt, und seine Beine spürt der gebürtige Deutsche nicht mehr. Ohne Hilfe kann er nicht essen, nicht trinken, sich nicht waschen. Daher wohnt der 57-Jährige im Dalheimer Behindertenheim der Fondation Kräizbierg. Sein Auto war 2002 von der Straße abgekommen und auf die Gegenfahrbahn geraten. „Am 13. Juli. Es war ein Samstag.“ Obwohl der Unfall mittlerweile 17 Jahre her ist, erinnert sich der ehemalige Zeitsoldat, der später zum Krankenpfleger umschulte, genau an jene Minuten, die sein Leben für immer verändern sollten.

Der Unfall Er war von Wellingen bei Saarbrücken, wo er damals wohnte, auf die A8 Richtung Saarlouis gefahren, um sich mit Lauffreunden zu treffen. „Zum Marathontraining“, sagt Rink. „Um den Kopf freizubekommen.“ Seine Frau hatte ihn und die drei Kinder kürzlich verlassen und Rink, vor einer Umschulung zum Krankenpfleger Soldat einer der Nato unterstellten Bundeswehr-Eliteeinheit, suchte Halt im Sport. Mit den Kindern und der Schwiegermutter im Haus fühlte er sich zunehmend überfordert. „Mein Chef im Altenpflegeheim in Luxemburg-Hamm hatte meinen Antrag bewilligt, auf Nachtschicht zu wechseln.“ Er sei wohl in Gedanken vertieft gewesen und habe nicht gemerkt, wie sein PKW plötzlich über die Fahrbahn hinausschoss.

Mit voller Kraft bremst Rink und kann doch nicht verhindern, dass das schlingernde Auto ausbricht und auf die Gegenfahrbahn gerät. Ein Laster, der in anderer Richtung fuhr, konnte nicht mehr ausweichen. „Ich habe noch versucht, das Auto seitlich zu setzen, damit mich der LKW nicht frontal erwischt. Dann wurde alles schwarz.“ Die Wucht des Aufpralls zerfetzte den geliehenen Opel Corsa seiner Tochter bis zur Unkenntlichkeit. Nur Rinks Kopf blieb unversehrt. „Wäre ich nicht angeschnallt gewesen, wäre ich jetzt tot.“ Rink erlitt kein Schädel-Hirn-Trauma, wie es für viele Verkehrsopfer typisch ist, die der Aufprall durch die Frontscheibe schleudert. Anders als bei den meisten tödlichen Autounfällen war der Vater dreier Kinder auch nicht zu schnell unterwegs, und Alkohol hatte er ebenfalls keinen getrunken.

„Ich wusste, noch ehe es mir der Arzt gesagt hatte, dass ich nicht mehr würde gehen können“, erinnert sich Rink. Er spricht langsam und konzentriert. Nachdem er wegen Komplikationen in eine Spezialklinik nach Bad Wildungen verlegt wurde, wo er mehrfach operiert wird und dann fast an einer durch einen MRSA-Klinikkeim verursachten Infektion stirbt, findet er sich mit seinem Schicksal, eigenen Aussagen zufolge, verhältnismäßig gut ab. „Als Elitesoldat der Nato war ich trainiert, jede Situation zu meistern, wieder aufzustehen, mich neu einzunorden und loszumarschieren“, beschreibt Rink die psychische Verfasstheit, die ihm das Leben gerettet habe. „Ohne die Armee-Ausbildung hätte ich das niemals geschafft.“ Ein Foto neben dem Bett zeigt einen durchtrainierten bärtigen Mann in schwarzer Uniform. Da war Rink gerade mit dem Fallschirm in der Türkei gelandet. Den Job beim Militär habe er damals angenommen, „um meine Familie zu ernähren“. „Heute bin ich Pazifist und Menschenfreund“, erzählt Rink, der mehrere Fallschirmspringerabzeichen besitzt, die er aber nicht aufgehängt hat. Der Verwalter des Gebäudes, Bâtiments publics, erlaube keine neuen Nägel in den Wänden.

Gegen den Blues Im Gespräch wird deutlich, wie radikal, wie grundsätzlich die Umstellung für den damals 40-Jährigen gewesen ist. Bereits durch die Trennung tief erschüttert, war er mit einem Mal gezwungen, sich Gedanken machen, wie und ob überhaupt es mit seinem Leben weitergeht. „Ich gebe zu, ich habe damals Selbstmordgedanken gehabt.“ Am schlimmsten sei der Gedanke an die Kinder gewesen. Der dreijährige Sohn kommt zur Mutter. „Mir war klar, ich würde das Haus nicht halten können.“ Die beiden Töchter waren zu dem Zeitpunkt 14 und 18 Jahre alt und plötzlich ohne Vater. Die ältere muss alleine zurechtkommen, die jüngere wohnt erst bei Verwandten, dann in einer betreuten Wohngruppe. „Für sie beide war es sehr hart“, sagt Rink und seine Stimme wird leise.

Er hält inne, zieht am durchsichtigen Schlauch, der links von seinem Mund befestigt und mit einer Wasserflasche verbunden ist. Rechts befindet sich ein weiterer Schlauch. Mit ihm bedient Rink die schwarze Fernbedienung, die an seinem Bett hängt. „Meine Puste wird in einen elektrischen Impuls umgewandelt. So kann ich von Ebene zu Ebene, von Funktion zu Funktion wechseln.“ Er pustet in den Schlauch, und auf dem Display springt ein rotes Licht von einer Ebene zur nächsten. Die Zimmerbeleuchtung lässt sich so regulieren, ebenso der Ventilator oder die Tageslichtleuchte. „Die hilft mir gegen den Winterblues.“ Sogar das analoge Telefon klingelt auf Atemdruck. Der Laptop, der vor ihm auf einem Nachttisch steht, wird ebenfalls mit dem Mund gesteuert.

„Die Technik gibt mir meine Freiheit zurück“, betont Rink, der IT-Kenntnisse in Rahmen seiner kaufmännischen Ausbildung erworben und über die Jahre stetig ausgebaut hat. Mit seinem für Tetraplegiker entwickelten Rollstuhl kann er den Computer bedienen, nach draußen in die Natur fahren. „Wende dein Gesicht der Sonne zu“, steht auf seiner Visitenkarte. „Der Rollstuhl ersetzt mir die Beine.“ Eine gute Freundin hilft ihm, mental aufzustehen. „Ohne sie hätte ich mich nicht getraut, wieder vor Menschen zu sprechen.“ Mit dem Behinderten-Transportdienst Adapto fährt er einkaufen, aber auch mal ins Konzert oder zur Arbeit: Für Naxi, eine Wiedereingliederungsinitiative für Arbeitslose, gibt er Motivationskurse. „Es ist etwas anderes, wenn jemand wie ich erzählt, wie er sich selbst in den Hintern tritt.“ Rink, der davon träumt, einmal als Kabarettist im Rollstuhl vorzufahren, hat einen feinen Humor, der im Gespräch immer wieder aufblitzt. Etwa als er den Umstand, dass der Unfall nicht während der Arbeitszeit geschah und somit nicht von der Unfallversicherung abgedeckt war, trocken mit „PDG – Pech, domm gaang“ kommentiert.

Die Frage, wie er sein Leben unter diesen Bedingungen sinnvoll gestalten kann, beschäftigt ihn heute nicht mehr so wie früher. „Manchmal zweifele ich, wie ich mich einbringen kann. Aber dann bekomme ich gutes Feedback und weiß, ich bin auf dem richtigen Weg.“ Im Motivationskurs lässt er Teilnehmende auch mal auf ihren Händen sitzen, verbunden mit der augenzwinkernden Aufforderung: „Wenn ihr nicht mehr könnt, meldet euch.“ Meist dauere es einige Minuten, bis der Groschen fällt, weil die ersten vor lauter Kribbeln nicht mehr ruhig sitzen können und sie bemerken, dass sie gar nicht per Handzeichen aufzeigen können. „Da wird ihnen schlagartig bewusst, wie abhängig man als behinderter Mensch ist.“

Assistenz für Autonomie Rink ist ein Befürworter der persönlichen Assistenz, wie sie in Großbritannien, Deutschland oder Schweden existiert. In Luxemburg hat die zuständige Familienministerin Corinne Cahen (DP) zugesagt, die Idee zu prüfen, aber bislang liegt noch immer kein Gesetzentwurf auf dem Tisch. Ein Assistent könnte Rink nicht nur bei so wichtigen Dingen, wie Waschen oder Essen zur Hand gehen, sondern ihn auch sonst im Alltag unterstützen. Gerade ist zum Beispiel die Maschine ausgefallen, die den Lesetisch bedient. Ein E-Buch zu lesen, ist kein Ersatz, denn das Umblättern klappt wegen Kompatibilitätsproblemen bei der Software nicht. Außerdem kann Rink sich keine Bücher bestellen. „Ich bin Sozialrentner. Meine kleine Rente erlaubt mir keine Kreditkarte“, sagt er lakonisch. Es sind so Kleinigkeiten, die Nicht-Behinderten kaum auffallen, die sich für Menschen wie Rink aber wie unüberwindbare Hindernisse auftürmen und ihnen das Leben unnötig erschweren. Nicht umsonst lautet ein Slogan von Behinderten-Selbsthilfeinitiativen wie dem Verein Nëmme mat eis: Nicht wir sind behindert, sondern die Gesellschaft behindert uns.

Rink ist, neben seinem Engagement für die Association nationale des victimes de la route, die den Kontakt zu ihm vermittelt hat, bei Nëmme mat eis aktiv. Er sieht für Luxemburg einigen Nachholbedarf: „In den letzten Jahren ist vieles dank der UN-Behindertenrechtskonvention besser geworden. Aber wir werden oft noch immer nicht ernstgenommen.“ Als er sich im Mai, das erste Mal in 17 Jahren, verschluckte, in der Folge an einer Lungenentzündung erkrankte und in die Klinik musste, warnte er das medizinische Personal, ihn nicht zu lange ohne Spezialmatratze zu betten. Die Pfleger ignorierten seinen Rat, mit schmerzhaften Folgen für ihn: Am Steißbein bildeten sich blutige Druckgeschwüre, die er mühsam kurieren muss. Tetraplegikern fällt das Schlucken von Nahrung in der Regel schwer; es besteht die Gefahr des Verschluckens. Weil sie Fremdkörper im Hals nicht einfach abhusten können, kann das zu Infektionen der Atemwege führen.

Gleichwohl lebt Rink gerne in Luxemburg; Kontakte zu ehemaligen Arbeitskollegen hatten ihn ins Heim der Fondation Kräizbierg nach Dalheim geführt. Im Foyer La Cerisaie seien die Betreuer freundlich und hilfsbereit, und trotzdem: „Grundsätzlich müssen sich die Bewohner an den Betriebsablauf anpassen statt umgekehrt“, bemängelt Rink. Das gelte vor allem für größere Aktivitäten. Die Skorpions hat der Musikbegeisterte, der seinen Besuch im schwarzen The Cure T-Shirt empfängt, live in der Rockhal gesehen. „So einen Ausflug muss ich Wochen im Voraus anmelden.“ Die Kontroverse, ob der geplante Gratistransport auch das Busangebot für Behinderte umfasst, trifft bei Rink einen Nerv: „Wir sind auf den Busdienst angewiesen, um selbstbestimmt unser Leben führen zu können“, unterstreicht er ernst. Er fordert einen „bewohnerzentrierten“ Ansatz, der die Bedürfnisse der Bewohner in den Mittelpunkt stellt und mehr Flexibilität bringt. In La Cerisaie etwa dürfen die Bewohner ihre Zimmer selbst einrichten, in neueren Heimen sei das nicht mehr der Fall: Das helle Badezimmer mit dem Medikamentenschrank hat Rink selbst entworfen, berichtet er, und mit seinem Sohn eingerichtet. Der Sohn macht derzeit eine Lehre bei Ikea.

Um Fehler und Frust im Umgang mit Tetraplegikern zu vermeiden, schreibt Rink einen Leitfaden. So etwas fehlt bisher in Luxemburg. Daneben arbeitet er an einem weiteren Buch: eine Art Lebensgeschichte. „Meine Passion, das Schreiben, ist mir geblieben.“ Als junger Mann hatte Rink nebenberuflich als freier Mitarbeiter für die Saarbrücker Zeitung gearbeitet und war zudem begeisterter Hobbyfotograf. Mit seinem Buch hofft Rink, eines Tages anderen Menschen Mut zu machen, die in einer ähnlichen Situation sind. „Natürlich zweifelt man. Aber das Leben ist, wie es ist. Alles hat irgendwie einen Sinn“, sagt er und seine Augen hinter den dicken Brillengläsern blinzeln.

 

Unvollständige Unfallstatistik


Rigobert Rink hätte den Unfall nicht überlebt, wäre er nicht angeschnallt gewesen. Auch Rasen oder Trunkenheit fielen bei ihm als Unfallursache aus. In Einsatzberichten der Verkehrspolizei sieht das allzu oft anders aus: Alkohol, eine zu hohe Geschwindigkeit oder Unaufmerksamkeit wegen Telefonieren oder SMSen am Steuer zählen zu den häufigsten Unfallursachen. Oft sind die Fahrer junge Männer, die durch einen risikoreichen Fahrstil auffallen und aufgrund mangelnder Fahrpraxis die Gefahr nicht richtig einschätzen. Als Hochzeiten für tödliche Verkehrsunfälle gelten der Sommer, wenn mehr Motorradfahrer unterwegs sind, und der Winter. Dann kommen schwierige Straßen- und Sichtverhältnisse hinzu. Wie viele Menschen auf Luxemburgs Straßen im vergangenen Jahr ihr Leben ließen, konnte das Land nicht mit Sicherheit erfahren. Eine entsprechende Anfrage bei der polizeilichen Pressestelle blieb bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet. Eigenen Recherchen auf Grundlage der Polizeiberichte zufolge lag die Zahl der direkt oder kurz darauf verstorbenen Verkehrsopfer 2019 bei mindestens 19, dabei wurden Schwerverletzte, die möglicherweise später im Krankenhaus verstarben, nicht mitgezählt. Stimmt die Zahl, läge sie deutlich niedriger als 2018 mit 36 Verkehrstoten und 2017, als auf Luxemburgs Straßen 25 Menschen tödlich verunglückten.

Ines Kurschat
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