Mit 94 hat Clint Eastwood noch einmal einen Film gedreht – seine 46. Regiearbeit. Juror #2 ist ein Film über einen devoten Familienvater, der als Geschworener in einem wichtigen Mordprozess in ein moralisches Dilemma stürzt. Zunächst rein äußerlich ein klassisches Justizdrama, werden im Zuge der Handlung immer mehr die leitmotivischen Koordinaten des Regisseurs Clint Eastwood erkennbar. In keinem anderen Film seiner langjährigen Karriere als Schauspieler und Filmemacher hat Eastwood die Fallstricke des amerikanischen Justizsystems eindringlicher befragt und in Zweifel gezogen als in Juror #2.
Wo Eastwood sich in Cry Macho (2021) noch prominent selbst in Szene setzte und eine Dekonstruktion seines Leinwand-Images des rauen Westerners anstrebte, so übernimmt er in seinem neuen und vermeintlich letzten Film selbst keine Schauspielrolle. Obwohl auf der Leinwand nicht direkt zu sehen, so ist er doch in den Bildern und Tönen dieser neuen Geschichte zu spüren: Im Zentrum des vorerst klassischen Gerichtsdramas steht Justin Kemp (Nicholas Hoult), Geschworener im Mordfall Kendall Carter. Unter Mordverdacht steht Kendall Carters (Francesca Eastwood) Freund, James Sythe (Gabriel Basso), das Paar hatte am Abend ihres Todes einen Streit in einer Bar. Die im Prozess vorgebrachten Indizien, Beweise und Zeugenaussagen erinnern stark an Gerichtsfilme, doch aus den Wortgefechten zwsichen Staatsanwaltschaft und Verteidigung bezieht Eastwood nicht das Spannungsmoment. Vielmehr dienen ihm die Gegenüberstellungen lediglich als Bebilderung einer Farce, denn der Geschworene Nummer 2, Justin, hat ein dunkles Geheimnis: Während der Tatnacht war er selber in der Bar anwesend, den Tod der jungen Frau hat möglicherweise er auf seiner Rückfahrt durch Fahrerflucht ver- oder mitverschuldet. Nur Justin weiß, ob der Angeklagte unschuldig ist.
Von dort aus breitet Clint Eastwood ein großes, hochkomplexes Netz aus, das um Fragen von Schuld, Moral, Ethik, Recht, Gerechtigkeit, Justiz und letztlich Wahrheit gewoben ist; Themenkomplexe, die ihn als Regisseur immer schon interessierten. Trotz der scharfen Kritik der einflussreichen Filmkritikerin Pauline Kael an Clint Eastwood wurde im Laufe seiner facettenreichen Karriere zunehmend deutlich, dass der vermeintlich reaktionäre und konservative Filmemacher sich nicht in einfachen Schablonen fassen lässt. Eastwood war zwar stets den Republikanern nah, trat jedoch nie als Parteimann vor die Kamera – seine direkte Zuordnung als konservativer Republikaner greift daher viel zu kurz. Seine konsequente und bedingungslose Unabhängigkeit, die eine freiheitliche Einstellung widerspiegelt, brachte er selbst auf den Punkt: „Ich glaube, ich war schon gesellschaftspolitisch links und wirtschaftspolitisch rechts, bevor das in Mode kam.“ Er fügte hinzu: „Ich sehe mich nicht als konservativ, aber ich bin auch nicht ultra-links. Ich schätze die libertäre Sichtweise, die besagt, dass man jeden in Ruhe lassen sollte. Schon als Kind störte es mich, wenn Leute anderen vorschreiben wollten, wie sie leben sollten.“ Im Laufe der Jahre hat Eastwood sich von den Republikanern distanziert und ist heute Mitglied der Libertären Partei. Eine Reduktion Eastwoods auf den konservativen, reaktionären Republikaner – wie es oft geschieht – wird der Komplexität und Vielschichtigkeit seines Werkes ohnehin nicht gerecht.
In Eastwood sitzt ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat. In Übereinstimmung mit seiner libertären Überzeugung plädiert er dafür, dass der Staat sich nicht in alle Lebensbereiche einmischen sollte. Versagt der Staat, ist Eigeninitiative umso wichtiger – ein Leitmotiv in seinem Spätwerk. Im Drama Mystic River (2003) ist es ein verzweifelter Vater, der für den Mord an seiner Tochter selbst Vergeltung sucht. In Changeling (2008) hingegen steht erstmals eine weibliche Hauptfigur, gespielt von Angelina Jolie, im Mittelpunkt, die als Mutter gegen die Ermittlungsbehörden ankämpft, die ihr entgegen ihrem mütterlichen Instinkt weismachen wollen, ihren verschwundenen Sohn gefunden zu haben. Dieses ambivalente Gefühl gegenüber Recht und Gesetz, die oft in eins fallen und doch nicht eins sind, findet in Juror #2 seinen deutlichsten Ausdruck: Eastwood zeigt, wie sehr das amerikanische Rechtssystem auf den Schuldspruch ausgerichtet ist. Man kann Juror #2 als Neulektüre von Sidney Lumets Justizdrama Twelve Angry Men (1957) ansehen, denn dort wie hier gibt es den einen Geschworenen, der den Schuldspruch abzuwenden versucht, wenngleich bei Eastwood aus falschen Motiven heraus. Dort wie hier ist der zentrale Schauplatz das „demokratische“ Beratungszimmer, in dem nicht mehr die Frage nach der Wahrheit vorherrscht, sondern der Wunsch nach Schuldigkeit innerhalb einer sehr differenzierten Gruppe von Menschen mit tiefsitzenden Vorurteilen, persönlichen Geschichten, Sorgen und Ängsten. Wie einst der Juror Nr. 8 (Henry Fonda), stellt Kemp die treffenden Fragen, um den „Mangel an Beweisen“ zu erhärten und die vorgefertigten Denkmuster seiner Mitgeschworenen zu entkräften, jedoch tut er das aus eigennützigen Absichten heraus. Trug Henry Fonda in Twelve Angry Men noch ein weißes Hemd, so ist dieser Justin Kemp überwiegend in hellen und dunklen Hemden zu sehen. Das wendungsreiche Drehbuch von Jonathan Abrams ist in dieser Hinsicht manchmal vielleicht ein wenig zu übertrieben ironisch, auch wenn etwa in der Eröffnungsszene Justins hochschwangere Frau (Zoey Deutch) mit einer Augenbinde gezeigt wird – als Personifizierung der Justitia. Wir erahnen bereits, dass ihr Mann nicht ganz perfekt sein kann, wenn sie ihm sagt: „Du bist perfekt!“
Obwohl Eastwoods frühere Filme stets eine eindeutige Position einnahmen, schloss das Raum für Nuancen und Ambivalenzen nicht aus. Mehr noch, dass Eastwood diese Facetten mit seiner präzisen Beobachtungsgabe aufzeigte, war von Anfang an ein zentraler Bestandteil seines künstlerischen Schaffens. „Justice and truth is not the same“, heißt es in Juror #2 an einer Stelle. So demokratisch das Geschworenensystem sich auch präsentiert, die Geschworenen stellen sich zur Wahl, sie werden ausgelost, so verweist Eastwood immer wieder auf die lange, administrativ aufwändige und letztlich fehlerbehaftete Ermittlungskette, die bereits vor dem eigentlichen Prozess ansetzte: Angefangen bei den polizeilichen Untersuchungen, die einen Fall aufzubauen haben, bis zur Verteidigung und Anklage, die ihrerseits eigennützige Hintergründe haben und Zwängen unterworfen sind. So unvoreingenommen, wie die allegorische Justitia es verspricht, ist das System nicht. Und wenn das System versagt, so Eastwood, ist die Selbstverantwortlichkeit umso mehr verlangt.