Es braucht womöglich doch einen Feminismus für alle, für Menschen ganz gleich welchen Einkommens, Hautfarbe, Bildungshintergrunds, Geschlechts

#Feminismus 2019

d'Lëtzebuerger Land vom 08.03.2019

“I identify as tired. I’m just tired.“
Hannah Gatsby (in der Stand-up Comedy Nannette.)

Wie jede Bewegung, die derzeit strukturell und individuell bedingter Gewalt entgegentritt, befindet sich auch der Feminismus auf einer Großbaustelle. In Luxemburg wurde nach den Wahlen wochenlang über Quoten diskutiert. Sie wirken dem Umstand entgegen, dass die Hälfte der Weltbevölkerung im Namen einer mysteriösen Weiblichkeit oder wegen Testosteronmangels zu einer Minderheit erklärt wurde. Zugleich zeigt die Verengung auf die Quoten-Vision, wie politisch unambi-
tioniert viele Aussagen aus der Zivilgesellschaft ausfallen. Hinzu kommen kecke Sprüche und Kampagnen aus dem Bereich des Popfeminismus, dessen Tragweite sich manchmal schwer einordnen lässt.

In Luxemburg setzt sich der CNFL (Conseil National des Femmes) seit Jahren für einen 40-prozentigen Anteil an Frauen auf den nationalen Wahllisten ein sowie für einen gleich hohen Anteil an Frauen in Verwaltungsräten des Privatsektors. Auf dem Blog der Voix des Jeunes Femmes, einer Untergruppe des CNFL, wird in dem Text „Why representation matters“ erläutert, weshalb es Frauen in der Politik braucht. Frauen, so wird argumentiert, müssten an den Entscheidungen über Frauengesundheit, Abtreibung und Prostitution beteiligt sein, da Männer zunächst ihre eigenen Interessen im Blick hätten. Der Vorwurf klingt legitim. Tatsächlich darf man bezweifeln, ob eine Mehrheit an Männern gänzlich unvoreingenommen Frauen betreffende Fragen diskutieren und Entscheidungen auf diesem Gebiet treffen können. Das Problem des „Wer ist berechtigt an wessen Stelle zu sprechen?“ ist mit einer Gender-Zuordnung aber nicht zwangsläufig gelöst. Denn warum sollten alle Frauen die gleichen Interessen vertreten? Immerhin existiert „die Frau“ ja nicht wirklich. Es existieren Personen mit unterschiedlichen sozio-biografischen Hintergründen, spezifischen Bildungswegen, persönlichen Vorlieben, politisch und weltanschaulichen Schwerpunktsetzungen sowie klassenbedingten Privilegien. Und: Wieviel weiß eigentlich eine x-beliebige Politikerin von dem Alltag einer Prostituierten? Letztlich kann ein Festkleben an der Argumentation „Frauenthemen betreffen Frauen“ auch übersehen lassen, dass es ohnehin nicht normal ist, dass historisch betrachtet vor allem gutsituierte Männer für die Mehrheit Entscheidungen treffen, egal in welchem Bereich.

Dieses Identitätsspiel über erfahrungsbegründete Autorität kann man in vielen Bereichen durchspielen. Wer darf sich aufgrund welcher Herkunft, welchen Geschlechts, welcher sozialen Klasse zu welchen Themen Äußern? Das Problem mit dem „Wir“ bleibt dabei oftmals gleich: die erste Person Plural ist praktisch-knapp, um Missstände zu benennen und Handlungsmacht zu generieren, sie kann aber immer zugleich unsinnge Differenzen schaffen sowie die Illusion, einer substanziellen Existenz dieses „Wir“. Um dem „wir“ als unnötiges Identitäts- und Kategorienkonstrukt weitestgehend zu entkommen, können wir uns von der schwarzamerikanischen Feministin bell hooks inspirieren lassen. Sie plädiert dafür, Solidarität nicht lediglich an geteilten Erfahrungen festzumachen. Solidarität könne auch auf politischen und ethischen Annahmen beruhen, die zu einer Absage an den geltenden Dominanzstrukturen führt. So könnte man holzschnittartig ihre Ideen aus Feminist Theory: From Margin to Center zusammenfassen. In diesem Sinne können sich auch Menschen mit Privilegien aus einer politischen Entscheidung heraus für die Rechte von Unterdrückten einsetzen.

Weiterhin argumentiert der Blogbeitrag, dass Menschen Macht und Führungspositionen allgemein mit Männlichkeit assoziieren würden. Deshalb bedürfe es positiver Vorbilder in Führungspositionen für junge Mädchen, denn Frauen seien genauso kompetent wie Männer. Auch diese Position klingt vernünftig und ist es in vielen Hinsichten auch. Durch ihren hohen Abstraktionsgrad erhält sie allerdings mollige Züge. Denn Kompetenz kann man schließlich in allen möglichen Bereichen zeigen: als Politikerin darin, Geld einsparende, aber sinnlose Bildungsreformen zu lancieren; sich im Vorstand einer börsendotierten Nahrungsmittelfirma für die Abholzung des Regenwaldes einsetzen oder in der Leitungsposition eines Kleinunternehmens für die Auflösung von Gehaltsscheren. Machtpositionen können eben zu vielem verleiten, auch dazu, sich von Macht korrumpieren zu lassen.

Während dieser Artikel eher im Krebsgang eruieren möchte, was einen politischen Feminismus ausmacht, ist aber schon lange nicht mehr klar, an welchen Orten Feminismus am wirkmächtigsten gedeutet wird. Denn die Deutungshoheit liegt ja schließlich zunächst dort, wo Stimmen gehört werden. Und das ist unter anderem dort, wo Heidi Klum und ihre Kolleginnen die Welt erklären. In der Netflix-Doku The American Meme über die Selfie-Generation erklärt das Model Emily Ratajkawski ihre Auffassung von Feminismus. Das Internet sei empowering, da sie heute – anders als Models vor 20 Jahren – ungefiltert kommunizieren könne. Sie habe eine direkte Verbindung zur ganzen Welt, schwärmt sie. Die Kontrolle, die sie dadurch über ihr eigenes Image habe, sei mächtig. Und genau darum gehe es beim fourth-wave-feminism: „it’s about accessibility to technology“. Die Karriere der Amerikanerin nahm ihren Lauf, als sie 2013 oben ohne in dem Musikvideo Blurred Lines tanzte. Ihr Instagram-Account zählt fast 22 Millionen Abonnenten. Auf ihren fast 2 000 Beiträgen erscheint sie mal halbnackt, mal beim Modeln, aber selten in einer nicht erotischen Pose. Wer hier an Selbstobjektifizierung denkt, liegt wohl kaum daneben.

Diese Form der Selbstdarstellung ist keine Randerscheinung. Laut den Studienergebnissen des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) beim Bayerischen Rundfunk zeigt sich bei Influencerinnen ein immer gleiches Muster: Sie beschäftigen sich vor allem mit den Themen Mode, Ernährung und Beauty. Die Followerinnen orientieren sich ihrerseits denn auch wieder an diesen Idealen und entwickeln einen kritischen Blick auf ihre natürliche Erscheinung. Und wir wissen auch, dass nicht nur die Kandidatinnen bei „Germany’s Next Top Model“ weiblich sind, sondern auch die meisten ihrer Zuschauer(innen). Warum, so kann man fragen, entwickelt sich der Beauty-Influencerinnen-Markt zu einem derart prominenten Freizeitfresser: Weil die Frauen sich durch den Beauty-Markt durchkrampfen wollen? Weil Sie in den meisten Milieus vor allem über ihr Aussehen Anerkennung von den weiblichen und männlichen Peers bekommen? Weil unsere derzeitige Wirtschaftsform diese Dynamik kreiert?

Gelegentlich wird behauptet, westliche Gesellschaften würden sich unter einem Gender-Mainstreaming-Diktat entwickeln. Noch letzten Monat habe sich die Ministerin Taina Bofferding während einer Pressekonferenz über die steigenden Zahlen an Frauen in Verwaltungsräten gefreut. Doch jede Gesellschaft fährt mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ist auf mehrere, manchmal widersprüchliche Koordinatensysteme gepolt. Deshalb sind die Konsum-Influencerinnen ebenso Teil unserer sozialen Welt, wie die Verwaltungsrätin und die Ministerin. Aber auch ein Blick in Spielzeugläden verrät, dass die Gespräche über ein verallgemeinertes Gender-Mainstreaming an der Realität vorbeigehen.

Unser derzeitiges globalisiertes Wirtschaftssystem scheint nicht nur zu bestimmen, wie Kinderspielzeug auszusehen hat, sondern auch wo und wann Solidarität unter Frauen möglich ist und wann nicht. So wies der Guardian unlängst auf die möglichen Absurditäten des Slogan-Feminismus hin. Die Spice Girls ließen Charity-Tops mit der Botschaft „#IWannaBeASpiceGirl“ in Bangladesch produzieren. Etwas mehr als die Hälfte des Verdienstes am T-Shirt-Verkauf soll dem Comic Relief Fund gespendet werden, der sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt. Dabei wurden die T-Shirts, deren Rückseite „gender justice“ verkündet, von Arbeiterinnen genäht, die deutlich weniger als den versprochenen Mindestlohn erwarben.

Während sich der Slogan-Feminismus ausbreitet, nehmen frauenverachtende Gesten ähnliche Formate an. Im Internet lassen sich nicht nur pornografische Inhalte finden, die über das menschlich Aushaltbare hinausschießen, sondern auch T-Shirts mit der Aufschrift „Keep Calm and Rape a Lot“ und „Keep Calm and Hit Her“. Zumindest bei Amazon konnten Kunden die Shirts kaufen, bis eine Protestaktion den Versanddienst zum Rückruf bewegte.

Es wäre allerdings falsch, den Slogan-Feminismus zu unterschätzen, meint die Literatin Laura Dshamilja Weber. Sie argumentierte unlängst in der Zeit, dass die regalfüllenden T-Shirts und Leinenbeutel mit Girl-Power-Sprüchen interessante Nebeneffekte erzielen würde. So sei es heute „cool“, eine Frau zu sein, und die Zuschreibung „Feministin“ sei deutlich positiv besetzt. Zudem komme es zu neuen, inspirierenden Mischformen von Popfeminismus und politischen Inhalten. Auf Spotify beispielweise werde nun eine Liste der Top-Feminist-Songs aufgeführt. Zwar enthalte die Liste auch seichte Musik mit kaum beachtenswerten Texten, daneben aber würden auch politisch engagierte Musikerinnen an Sichtbarkeit zulegen. Der Feminismus besitzt also mehr als nur eine Seite.

Auch Véronique Brück beschäftigte Ende 2018 in ihrem „Fräie Mikro – D’Bild vun der Frau“ auf Radio 100,7 der Facettenreichtum der Frau. Sie sprach sich in ihrem Beitrag für die Abwendung von veralteten und beleidigenden Gesellschaftsbildern aus, damit Frauen ihre eigene Vielfalt erkunden können. Derzeit würden noch immer, auch in der Luxemburger Presse und bedauerlicherweise auch von Journalistinnen, gelegentlich falsche Frauenbilder vermittelt. Letztlich werde damit unnötiges Schubladendenken befeuert und Solidarität unter Frauen verhindert. Denn diese sehen sich in diesem Etikettendenken gezwungen, sich stets abzugrenzen: entweder vom Bild der „asexuellen Intellektuellen“ oder dem „dummen Püppchen“.

Besonders gering sei die Solidarität zwischen Frauen in nach vertikalen Hierarchien geordneten Organisationen, wie Parteien oder personalintensiven Unternehmen, wird gelegentlich argumentiert. Auch die ehemalige deutsche Ministerin Christine Haderthauer berichtet in einem Interview mit der Zeit (16.1.2019) davon: „Ohne Seilschaften, ohne organisierte Unterstützung geht in der Politik gar nichts. Und da sind die Männer den Frauen überlegen. Frauen unterstützen sich gegenseitig nicht.“ Die Frage nach der Missgunst unter Frauen, die sich in bestimmten Konstellationen manifestiert, beschäftigte auch Simone de Beauvoir in Le deuxième sexe. Sie argumentiert, die politischen und ökonomischen Strukturen seien historisch so gewachsen, dass das benachteiligte Geschlecht sich bevorzugt aus seiner prekären Situation heraus mit seinem Beherrscher verbünde, als sich gegenseitig zu solidarisieren. «[D]ie Komplizenschaft mit dem Mann zu verweigern, heißt eben auf alle Vorteile zu verzichten, die ihnen die Allianz mit der höheren Kaste verleihen kann“1 , schreibt de Beauvoir. Ähnlich pessimistisch fällt eine Behauptung von bell hooks aus: „Viele hocherfolgreiche Frauen haben das raue, individualistische Ideal, das wir mit Erfolg verbinden, verinnerlicht. Das trifft gerade auch auf viele schwarze Frauen zu. Sie befürchten, dass jegliche Geste der Solidarität mit anderen Frauen ihrem Erfolg schadet.“2

Sicherlich wurden bei den letzten Wahlen in Luxemburg nur zwölf Frauen direkt ins Parlament gewählt, weil die Kandidatinnen während der Kampagne überwiegend medial unsichtbar blieben und die Wahrnehmungsschablone vieler Wähler Frauen und Politik nicht zusammenbringen will. Dass dabei die systematische Verstummung von Frauen in der öffentlichen Sphäre, historisch betrachtet, eine sehr, sehr, sehr lange Tradition hat, hat unlängst Mary Beard in Women&Power: A Manifesto nachgezeichnet. Aber vielleicht liegt ein Aspekt der Antwort auch darin, dass Frauen untereinander nicht besonders solidarisch sind, wie es de Beauvoir andeutet. Denn immerhin waren nicht nur 46 Prozent aller Kandidaten Frauen, sondern zumindest ebenfalls die Hälfte der Wählerschaft.

Beschäftigt man sich mit den Ideen von Simone de Beauvoir, stellt man fest, dass die oben aufgeworfenen Fragen rund um den Popfeminismus und Selbstobjektifzierungstendenzen womöglich nicht unwichtig sind. Ihr zufolge wurde die Frau in einem auf Männlichkeit ausgerichteten Gefüge zu dem „anderen Geschlecht“ gemacht. Insofern kann sie sich oftmals nicht in dem gleichen Maße als Subjekt erleben wie der Mann, da sie sich erst über den Umweg des Mannes definiert beziehungsweise definiert wird. Damit die Frau ein emanzipiertes Subjekt werden kann, müsse sie sich zunächst aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Mann lösen. Sie bezweifelt allerdings, dass echte Unabhängigkeit im Kapitalismus möglich ist: „Die Mehrheit der Arbeiterinnen sind heute Ausgebeutete. (…) Diese Welt, die den Männern seit jeher gehört hat, bewahrt noch das Gesicht, das sie ihr aufgedrückt haben“,3, so de Beauvoir.

Seit die französische Philosophin ihr Buch 1949 veröffentlichte, haben sich in der westlichen Wirtschaftswelt und Gesellschaft Verschiebungen vollzogen. Allerdings bleiben ihre Analysen weiterhin relevant. Denn wahrscheinlich hat sie auch in Bezug auf unser Waren-Fetischismus-Denken recht. Jede zweite Werbung macht deutlich, wie die Konsumgesellschaft vor allem den weiblichen Körper mit Mythen, Ansprüchen und Aufforderungen überhäuft. Sind die meisten Luxemburger Frauen heute zwar finanziell unabhängig von Männern, versucht das neoliberale Narrativ sie wieder zum Objekt umzuformen. Zudem bleibt eine große Zahl der Frauen im professionellen Gefüge Männern untergeordnet. Doch auch die Männer nimmt die Konsumrealität ein. Auch sie geben jährlich mehr Geld für Uhren und anderen Kram aus, aber gerade für Fitnessclub-Abos. Nahezu so, als müssten sie sich ihres körperlichen Daseins vergewissern oder ihre Autonomie unter Beweis stellen. Überdies zeigen de Beauvoirs Überlegungen zu Herrschafts- und Allianzdynamiken ebenfalls, welcher Nebeneffekt aus einer Glorifizierung von Führungspositionen hervorgehen kann: Implizit kann sie die Entwertung von sozial und körperlich anspruchsvollen Care-Berufen sowie auch handwerklichen Fertigkeiten vorantreiben, die europaweit nicht unbedingt wohlwollend entgolten werden und auf wenig Anerkennung stoßen. Und schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass 18- bis 27-jährige Frauen und Männer fast gleich häufig Opfer von sexueller Aggression gewesen sind, wenngleich die Täter in der Mehrheit Männer waren. 32 Prozent der jungen Frauen, aber auch 27 Prozent der jungen Männer gaben an, schon einmal Drohungen, körperliche Gewalt oder die Ausnutzung von Widerstandsunfähigkeit erlebt zu haben. Dies erwähnt Stefan Hirschauer, Professor für Gender Studies, in seinem Artikel „YouToo“. Die wirtschaftlichen Imperative und das Gehabe, die uns die Alpha-Männer aufdrücken wollen, bewirken demnach auch Ermüdungserscheinungen bei einer Vielzahl der Männer. Demnach benötigen wir nicht einfach nur Quoten und noch mehr Quoten, sondern ebenso ein kritisches Bewusstsein für Machtdynamiken und Privilegien.

Es braucht womöglich doch einen Feminismus für alle, für Menschen ganz gleich welchen Einkommens, Hautfarbe, Bildungshintergrundes, Geschlechts. Einen Feminismus, der nicht ausbeutet. Auch nicht zur Selbstausbeutung aufruft. Denn wer möchte schon bedingungslos leistungsfähig sein, sich in einem Wettrennen von Verwaltungsrat zu Verwaltungsrat, vom Kindergarten zum Arbeitsplatz, vom Arbeitsplatz zu wohin auch immer befinden. All das natürlich erfolgreich, sexuell verführerisch und gesellschaftlich überangepasst. Statt Glück wartet hierbei am Ende womöglich eher Erschöpfung.

1 La femme indépendante, 2008, S. 32 (eigene Übersetzung)

2 Yearning: race, gender, and cultural politics, 1990, S. 98 (eigene Übersetzung)

3 La femme indépendante, 2008, S. 46 (eigene Übersetzung)

Stéphanie Majerus
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