Crying wolf

d'Lëtzebuerger Land vom 21.07.2017

Nur wenige Tage nach einer ersten Sichtung in Leudelingen, mittels unscharfem Telefonfoto festgehalten, soll der Wolf nahe Garnich zugeschlagen haben und nicht ein, nicht zwei, sondern gleich acht Schafe auf einmal getötet haben. Seither herrscht Ausnahmezustand, nicht nur auf der Schafsweide, sondern in den Medien, an den Stammtischen und im Unterbewusstsein. Einige Journalisten der urbanen Art wurden derart hysterisch, dass sie meinten, Leudelingen und Garnich seien Nachbardörfer. Dieser Irrtum dürfte dem Wolf egal sein. Auf der Suche nach einem neuen Revier legen seine Artgenossen bis zu 1 500 Kilometer zurück, wandern von der Iberischen Halbinsel bis nach Nordfrankreich, von Polen bis nach Westdeutschland; da schafft er es gerade noch so von Süd- nach Westluxemburg.

RTL drehte am Tatort des achtfachen Mordes für einen besseren Überblick des Horrors mit einer Drohne und produzierte eine Art Video, wie man sie von US-Sendern kennt, die Live-Mitschnitte von aus Polizeihubschraubern heraus gefilmten Verfolgungsjagden meist hellhäutiger Polizisten auf dunkelhäutige Verdächtige zeigen. Zu sehen waren mehrere Autos des Einsatzkommandos und der Spurensicherung, die im Gestrüpp nach DNA-Proben suchten, um den Täter eindeutig als Wolf zu identifizieren. Dabei deutet die Indizienlage nicht auf einen Wolf hin, es sei denn, es handelt sich um ein nicht besonders gebildetes Exemplar. Schließlich weiß jedes Kind, dass so ein Wolf keine acht Schafe, sondern sieben Geißlein isst.

Beim Gedanken an den Wolf rührt sich bei vielen dank der Gebrüder Grimm eine in jungen Jahren geprägte Urangst. Dass eine Wölfin Romulus und Remus aufgezogen hat und damit bereits in der Antike einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung der Zivilisation in unseren bewaldeten Gegenden geleistet hat, wird meistens vergessen. Dass aus Gründen der politischen Korrektheit beim Fangenspielen in den Turnstunden der Ruf „Wer hat Angst vor dem bösen schwarzen Mann?“ durch „Wer hat Angst vor dem bösen schwarzen Wolf?“ ersetzt wurde, hat nicht zum Abbau von Vorurteilen beigetragen. Mit diesem „Surplus-Killing“, wie es im Expertenjargon heißt, aber hat der Wolf gleich bei seinem ersten Auftritt sämtliche Vorurteile über straffällig gewordene Einwanderer bestätigt. Damit könnte er der ADR zu unverhofften Erfolgen bei den Gemeindewahlen verhelfen, falls die Entwicklung in Deutschland ein Indikator ist. In verschiedenen Landkreisen, in denen sich Wölfe aufs Schafefangen spezialisiert haben, geht die Antipathie so weit, dass Einwohner dem MDR gesagt haben, die CDU sei ihnen nicht mehr stramm genug, sie würden beim nächsten Wahltermin die AFD wählen. Das entbehrt nicht einer gewissen Logik – wer Flüchtlinge an den Grenzen zum Abschuss freigeben will, zögert sicher nicht, das Jagdverbot gegen den Wolf aufzuheben.

Einzig der Bär ist als Wildtier so unbeliebt wie der Wolf, wie die Ergebnisse einer 2001 in der Schweiz durchgeführten umfangreichen Studie zeigen. In Raubtierakzeptanz in der Schweiz: Erkenntnisse aus einer Meinungsumfrage zu Wald und Natur zeigen Stephan Wild-Eck und Willi Zimmermann, dass der Luchs, obwohl er keine Schmusekatze ist und ebenfalls Nutztiere erlegt, ein viel besseres Image hat als Wolf und Bär. Männer sind in der Regel aufgeschlossener als Frauen, was die Duldung wilder Tiere angeht, und junge Leute eher dafür als ältere, haben Wild-Eck (sic) und Zimmermann herausgefunden. Die Umfrage hat ebenfalls ergeben, dass die Herkunft eine Rolle spielt: Während zwei Drittel der italienischen Schweizer der Wiederkehr von Luchs, Wolf und Bär positiv entgegenblicken, sind deutsche und französische Schweizer zwar tolerant, was den Luchs betrifft, aber nicht ganz so scharf auf eine Begegnung mit Wolf oder Bär.

Es ist also wissenschaftlich belegt: Ein kleiner Teil der westeuropäischen Bevölkerung ist derart tolerant und tierlieb, dass er am liebsten die Jäger abknallen würde. Der Großteil der Gesellschaft aber setzt im Kampf für Artenvielfalt und artgerechte Tierhaltung auf den Verzehr von Bio-Eiern und fängt, zwecks Bienenschutz, Gartenschädlinge mit Bier statt mit Bayer-Produkten. Aber beim Gedanken daran, dass sie beim Waldspaziergang mit dem, trotz gesetzlichem Leinenzwang, freilaufenden Toutou, einem Rudel Wölfe begegnen könnten, fragen sie sich doch: „Ist das nicht ein bisschen viel Natur?“

Plötzlich weiß man nicht mehr, in welche Richtung die Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte im Umwelt- und Klimaschutz, das ganze Recyclen, die Partikelfilter und Elektroautos, das Vollkornbrot gehen, ja der Fortschritt insgesamt? Vorwärts oder zurück? Die Wahl zwischen Cattenom und Solarzellen fällt nicht schwer. Aber heißt gegen sauren Regen auch für den Wolf sein? Reicht da vielleicht doch ein Regenschirm? Wer wilde Tiere sehen will, kann schließlich zur Safari in Entwicklungsländer fahren. Während man für teures Geld Elefanten, Löwen oder Tiger im gepanzerten Jeep und aus sicherer Distanz bewundert, kann man sich die Gedanken darüber sparen, dass sie nachts Felder zertrampeln oder Nutzvieh und arme Bauernkinder fressen. Diese majestätischen Kreaturen, das ist sicher, gehören auf jeden Fall geschützt, dafür kann man bei Greenpeace in der Groussgaas spenden.

Wer aber demnächst ein wolfsähnliches Heulen vernimmt, muss nicht gleich Angst haben, dass Isegrim um die Ecke kommt. Es könnte sich dabei schlicht um die Mitarbeiter der Natur- und Forstverwaltung handeln, die versuchen, à la Kevin Costner mit den Wölfen zu kommunizieren. „Provoziertes Heulen“ ist eine der Maßnahmen, durch die ein Wolfsbeleg erbracht werden kann – wenn er antwortet –, notfalls mithilfe ausländischer Experten. So steht es im Management-Plan für den Wolf, den die zuständigen Behörden in weiser Voraussicht im Februar veröffentlichten. Fragt sich, ob die wilden Tiere im Rudel über ausreichend qualifiziertes Personal verfügen, um ihre Manager zu verstehen? Beispielsweise einen Juristen, der ihnen erklärt, dass „die Entnahme“ Tod durch Erschießen bedeutet, der Risikowölfen blüht, und dass, wer nicht als Risikowolf eingestuft werden will, besser nicht wiederholt an der gleichen Stelle auftaucht, um Mensch und Vieh zu erschrecken. Dem Menschen erklärt der Management-Plan, dass er „nicht zum Beuteschema des Wolfs“ gehört, aber besser direkten Augenkontakt vermeidet und nicht wegläuft, um dessen Jagdinstinkt nicht zu wecken. Wenn der Wolf sich nach einem Gespräch nicht von alleine trollt, „kann man mit Zweigen, Steinen oder Sand (alles, was man so findet) nach ihm werfen“.

Michèle Sinner
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