Psychiatriereform

Das "Héichhaus" wackelt

d'Lëtzebuerger Land vom 30.06.2005

Wulf Rössler ist ein freundlicher Mensch und versteht sich auf Diplomatie. In nur sechs Monaten hat der Psychiatrieprofessor von der Uniklinik Zürich im Auftrag von Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo eine Studie über den Stand der Psychiatriereform in Luxemburg und das, was noch zu tun bleibt, erstellt. Am Montag präsentierte er die Ergebnisse dem vor acht Monaten eingerichteten "Comité de pilotage" aus Vertretern des Ministeriums und der im Bereich der Psychiatrie tätigen Kliniken, und anschließend der Presse. Dort würdigte er, was schon geleistet wurde - "viel" seiner Meinung nach -, ehe er auf Mängel zu sprechen kam, und er übte sogar Selbstkritik: 1993 hatte ein Expertenteam unter der Leitung des Mannheimer Professors Häfner den berühmt gewordenen Häfner-Bericht erarbeitet, der dringend eine Dezentralisierung und Enthospitalisierung der psychiatrischen Behandlung hier zu Lande empfahl. Damals war das Ettelbrücker Hôpital neurospsychiatrique noch eine Staatseinrichtung und zählte über 500 Patienten. Rössler hatte der Häfner-Gruppe angehört. "Wir haben damals eine Bestandsaufnahme gemacht, Empfehlungen gegeben und gingen wieder", sagt er heute. "Wir haben Luxemburg im Regen stehen gelassen. Danach machte eine gewisse Ratlosigkeit sich breit. Das soll nun anders werden."

"Viel wurde getan" und: "Die Psychiatriereform soll künftig einer stärkeren Führung unterliegen": solche Signale sind nicht zuletzt wichtig gegenüber der rund 600-köpfigen Belegschaft des CHNP, der laut Wulf Rössler "größten Zukunftsbaustelle". Denn mit dem heutigen Tag beginnt eine Zäsur für die Luxemburger Psychiatrie: Nach 150 Jahren verliert das CHNP seine Zuständigkeit für Akutbehandlungen. Wie es der Plan hospitalier vorsieht, werden sie nur noch in den vier Regionalkrankenhäusern Centre hospitalier und Hôpital de Kirchberg in der Hauptstadt, dem Centre hospitalier Emile Mayrisch in Esch und in der Ettelbrücker St Louis-Klinik vorgenommen. Jedes der vier Spitäler besitzt dafür je 45 Betten. Transfers ins CHNP soll es nur noch geben, falls eine Therapie in einem Akutkrankenhaus nach einer gewissen Zeit noch nicht erfolgreich war.

Daraus wird sich dort zwar ein Rückgang der Aktivitäten ergeben, zumal es ab heute auch vom Untersuchungsrichter verfügte Zwangseinweisungen nicht mehr ins CHNP geben soll. Allerdings ist das CHNP längst nicht mehr jenes "Asyl", das in den Siebzigerjahren noch über 1 000 Patienten beherbergte. Eine Dezentralisierung am Standort Ettelbrück gab es; schon lange werden neben Klinikstationen auch betreute Wohnungen und ein mobiler Service psychiatrique à domicile betrieben. Darüber hinaus werden Regierung und Krankenkassenunion UCM die Klinik in ihrer Übergangsphase stützen: Letztere will nicht sofort mit Budgetkürzungen, die gleichzeitig Kürzungen in der Gehältermassse wären, reagieren, falls es tatsächlich nicht mehr genug Arbeit geben für alle geben sollte. Gesundheitsminister Di Bartolomeo rechnet vor, dass allenfalls für jeden Zehnten der 600 "eine neue Affektation" gesucht werden müsste, und dabei würde die Regierung helfen. Soll beispielsweise heißen: Auch für jene, die noch das Staatsbeamtenstatut besitzen, weil das CHNP erst vor sechs Jahren zum "établissement public" wurde, und die deshalb bislang keine Anstellung in einer nur Privatangestellte beschäftigenden Klinik finden können, könnte ein Weg gefunden werden, sie über ein "détachement" an ein anderes Haus zu delegieren, ohne dass dieses sich auf Beschäftigte mit zweierlei Statut einlassen müsste. "Die Diskussionen laufen", versichert Mars Di Bartolomeo.

Die große Frage aber ist die, in welche Richtung sich die Psychiatrie insgesamt und mit ihr das CHNP in den nächsten Jahren entwickeln soll. Auf die "Rehabilitation" psychisch Kranker soll es sich konzentrieren, schreibt der Spitalplan vor; auf welche, sagt er nicht, da er hauptsächlich eine Bettenökonomie festlegt. Die Strukturreform des CHNP aus sich selbst heraus hat bislang nur wenige Resultate erbracht. Zwar kann Generaldirektor Jean-Marie Spautz auf Wohnprojekte und mobile Dienste verweisen, doch die 67 Millionen Euro, die dem CHNP an öffentlichen Geldern zur Errichtung dezentraler Strukturen seit 1999 zustehen, wurden noch nicht abgerufen. Suspendiert wurde das im Herbst 2002 präsentierte Vorhaben, in der Nachbarschaft des Hôpital Princesse Marie-Astrid in Niederkorn eine psychiatrische Reha-Klinik mit 100 Betten einzurichten. Diese Struktur war wegen ihrer Größe selbst CHNP-intern umstritten. Heute meint Klinikchef Spautz, dass "eigentlich schon ein Haus, in dem 15 psychisch Kranke untergebracht sind, groß ist". Vielleicht ließen sich ja 150 Reha-Plätze auf zehn Häuser verteilen, oder gar auf noch mehr?

Damit greift er die ersten Empfehlungen aus der Studie Wulf Rösslers auf. 237 Reha-Betten für das CHNP sieht der Spitalplan vor. "Sicherlich zu viele", glaubt der Professor aus Zürich, der stattdessen die Einrichtung einer weiteren akut-psychiatrischen Station in einem fünften Regionalkrankenhaus empfiehlt. Immerhin gab es im vergangenen Jahr in Luxemburg 6 500 Hospitalisationen mit psychiatrischer Diagnose, darunter hunderte in Kliniken, die keine Psychiatriestation haben: über 200 etwa im HPMA in Niederkorn, über 500 in der hauptstädtischen Zitha-Klinik. Laut Spitalplan kämen in Luxemburg 0,4 Psychiatrie-Akutbetten auf 1 000 Einwohner; laut Weltgesundheitsorganisation aber sollte dieses Verhältnis zwischen 0,5 und 1,0 betragen, der EU-Durchschnitt beträgt 0,87. Den Krankenhäusern, die ab heute die Akutversorgung übernehmen, bescheinigt der Rössler-Bericht einen "infrastrukturell hervorragenden Zustand". Die dort bislang behandelten Patienten konnten im Schnitt nach bereits 15 Tagen entlassen werden, was "beachtenswert" sei.

Die Frage, ob man bei ausgeweiteter Akutversorgung womöglich viel weniger stationäre Rehabilitation brauchte, als bislang angenommen, hat allerdings weit reichende gesundheits- und sozialpolitische Implikationen. Die CSV-DP-Regierung stellte sich ihr kaum; Gesundheitsminister Carlo Wagner brachte zwar die Klinikvertreter zusammen, um die Aufgabenteilung nach der Zäsur "Akutversorgung" zu besprechen. Mehr unternahm er nicht. Allerdings war der Begriff "Psychiatriereform" im Koalitionsabkommen von CSV und DP auch nicht vorgekommen. Fünf Jahre danach sehr wohl, und laut Mars Di Bartolomeo sollen anhand des Rössler-Berichts klinische und außerklinische Strukturen erstmals zusammen bedacht werden. Im Herbst soll geschehen, was die freien Träger von Beratungs- und Betreuungsdiensten, betreuten Wohnstrukturen und geschützten Werkstätten seit dem Häfner-Bericht vor zwölf Jahren vergeblich forderten: Sie werden in die Psychiatrieplanung einbezogen. Geht es nach Wulf Rössler, müssten sie substanziell gestärkt und ihr Tätigkeitsfeld vergrößert, die finanziellen Zuwendungen an sie erhöht werden. Allein die Zahl der betreuten Wohnungen müsse sich von zurzeit 107 auf 350 mehr als verdreifachen - nur so ließe sich die Zahl der gegenwärtig in Familienpensionen, Obdachlosenunterkünften und teilweise auch als Langzeitpatienten im CHNP "eindeutig Fehlplatzierten" senken.

Diskutieren lassen will der Gesundheitsminister über diese Vorschläge, die Luxemburg zu einer regional vernetzten Gemeindepsychiatrie verhelfen sollen, im Herbst auch auf der Nationalen Gesundheitskonferenz. Das ist sicherlich eine gute Idee, denn ein solcher Reformschritt bedarf zweierlei: Geld zum einen, öffentlicher Akzeptanz zum anderen. Noch gibt es keine Schätzungen darüber, was die Psychiatriereform kosten könnte, für die Wulf Rössler einen Zeithorizont von drei bis zehn Jahren veranschlagt. Klar ist jedoch, dass gerade die Betreuung psychisch Kranker - zum Teil rund um die Uhr - personalintensiv ist. Wulf Rössler hält die Finanzierung der freien Träger per Konvention aus dem Staatsbudget für längerfristig nicht die beste Lösung; Mars Di Bartolomeo will prüfen lassen, ob und welcher Teil der Kosten eventuell von den Krankenkassen oder der Pflegeversicherung übernommen werden könnte.

Kostenträchtig dürfte auch die Weiterqualifizierung des CHNP-Personals werden, für das es nach Ansicht Rösslers genügend Arbeitsmöglichkeiten in einem restrukturierten CHNP geben werde. Fünf "nationale Zentren" sollen aus dem CHNP entstehen, zum Teil mit stationären, tagesklinischen und mobilen Betreuungseinheiten - eines für Alterspsychiatrie, eines für die Therapie von Abhängigkeitserkrankungen, eines für Früherkennung und Frührehabilitation, sowie eine Hochsicherheitseinrichtung, welche die derzeitige Psychiatriestation im Schrassiger Gefängnis ersetzen würde. Zu guter Letzt soll das CHNP die Koordination und Vorausplanung von gemeindepsychiatrischen Aktivitäten übernehmen.

"Diese Überlegungen liegen nicht weit von meinen eigenen", sagt CHNP-Generaldirektor Spautz, der "froh" ist, dass die Psychiatrie im Lande nun "unter Druck von außen kommt, denn wir sind keine guten Reformmanager". Dass das "Building" und "Héichhaus" genannte und zum Symbol einer Verwahranstalt gewordene Stationsgebäude abgerissen werden sollte, wie im Rössler-Bericht angeregt, "kann ich mir ebenfalls vorstellen".   Die Frage stelle sich aber, welche dezentralisierten Einrichtungen man wo platziert - auch aus Erfahrung, denn als die CHNP-Verantwortlichen vor drei Jahren mit dem Projekt ihrer 100-Betten-Rehaklinik von Krankenhaus zu Krankenhaus zogen und sich als Nachbar anboten, wollte außer dem HPMA in Niederkorn sie niemand haben.

Stellen müsste sich diese Frage schon in den nächsten Monaten, wenn das Gesetz über die Zwangseinweisungen überarbeitet wird. Zwar hieß der Regierungsrat vor einer Woche einen Abänderungsentwurf gut. Doch der soll vorerst nur regeln, dass die vier Akutkliniken überhaupt Akutbehandlungen vornehmen können - weil diese Gesetzesänderung eigentlich heute schon in Kraft sein müsste, gibt es vorläufige Abmachungen und einen Erlass Mars Di Bartlomeos.   Doch auch der am Freitag diskutierte Gesetzentwurf ändert vorerst noch nichts daran, dass in Luxemburg in die Psychiatrie zwangseingewiesen werden kann, wer die öffentliche Ordnung stört. Kritisiert wurde Luxemburg für diese wage Definition von internationalen Mediziner- und Menschenrechtsorganisationen schon, und auch der Europarat hält dergleichen für überholt. Inwiefern sich daran etwas ändert, kann auch darauf schließen lassen, ob die Luxemburger Gesellschaft bereit ist, psychisch Kranke noch stärker als bisher zu integrieren.

Peter Feist
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