Wahlkampfvorbereitungen in der Opposition

"Die Situation hat sich total geändert"

d'Lëtzebuerger Land vom 02.10.2003

„Keine Panik im Vorwahljahr" beschwichtigte das Luxemburger Wort am Donnerstag letzter Woche über vier Spalten. Und der Koalitionspartner vom Journal versprach am selben Tag mit einer ebenso breiten Schlagzeile: „Regierung hat Situation fest im Griff." Die Koalition muss also ganz schön ratlos sein.

Um diese Ratlosigkeit kreisen dieser Tage die traditionellen Versammlungen der Parlamentsfraktionen. Dort werden die letzte Parlamentssession vor den Wahlen in achteinhalb Monaten und damit zuerst ein Stück Wahlkampf vorbereitet. Die Opposition hat es schon weitgehend hinter sich, die Mehrheitsparteien ziehen bis nächste Woche nach.

Denn was sich letzten Herbst abzeichnete - dass das Wirtschaftswachstum bereits im Vorjahr von neun auf ein Prozent gefallen war und niemand es gemerkt hatte ­ ist jetzt dabei, zur Gewissheit zu werden: der Wahlkampf könnte einen ganz anderen Dreh bekommen, als geplant. „Die Situation hat sich total geändert", stellte LSAP-Fraktionssprecher Jeannot Krecké am Montag fest. Und erinnert daran, dass vor einem Jahr noch über einen Zukunftskonvent, Wachstumsdrosselung, Arbeitskräftemangel und 700 000-Eihwohnerstaat diskutiert wurde…

Wenn sich die Situation aber total geändert hat, dreht der Wahlkampf nicht bloß um die Fragen, ob die Mehrheit ihr Koalitionsprogramm erfüllt hat und was man für die nächsten fünf Jahre versprechen kann. Sondern neue Fragen werden plötzlich akut: ob die Mehrheit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten gewachsen ist und ob die Opposition es besser könnte.

Nachdem sie wochenlang eisern zu einem Haushaltsentwurf für 2004 geschwiegen hatte, der es mit allerlei Kunststücken noch einmal jedem recht zu machen versucht, beginnen LSAP und Grüne nun den Verdacht zu äußern, dass etwas am schwarzblauen Haushaltsentwurf nicht stimmen könnte.

Jeannot Krecké fährt sogar schweres Geschütz auf und rückt die Koalition in die Nähe von Bilanzfälschern: Nach dem im Rahmen der Währungsunion für Luxemburg verbindlichen Europäischen System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung SEC 95 „beträgt das Haushaltsdefizit keine 88 Millionen, sondern 800 oder 900 Millionen Euro". Finanzminister Jean-Claude Juncker lege „in Brüssel die Wahrheit auf den Tisch", wo er nicht anders könne, während die Öffentlichkeit hierzulande geschönte Zahlen vorgelegt bekomme. Und trotz des am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Gesetzes über die staatliche Buchhaltung würden statt der Gesamtkonten der Staatsfinanzen weiterhin  immer nur die Einnahmen und Ausgaben vorgelegt.

Mit allerlei Tricks gehe es der Koalition bloß darum, mit ihrem Haushalt über den Wahltermin zu kommen, heißt es bei LSAP und Grünen unisono. Die Steuerrückstände seien bald alle eingetrieben und niemand wisse so recht, welcher Teil der derzeitigen Steuereinnahmen auch für die kommenden Jahre als Einnahmen sicher seien und welcher aus einmaligen Rückständen bestehe. Der Verkauf staatlicher Beteiligungen an die SNCI sei, so Krecké, bloßes Umpacken „von einer Schublade in die andere".

Die LSAP wie die Grünen warten nun gespannt auf den spätestens für Anfang Dezember erwarteten mehrjährigen Investitionshaushalt. Ihn wollen sie dann genau unter die Lupe nehmen, weil sie befürchten, dass die Regierung seit langem versprochene Investitionsausgaben aus Spargründen streckt oder streicht.

Steuererhöhungen in einem Wahljahr sind ebenfalls ein gefundenes Fressen für die Opposition, selbst wenn die Regierung auf Zwecksteuern setzt, damit niemand gegen deren guten Zweck sein kann. Wie die Erhöhung der Bezinsteuer um sieben Cents je Liter, die nächstes Jahr rund 60 Millionen Euro oder über 2,4 Milliarden alte Franken einbringen soll. Diese Mittel sollen in den Beschäftigungsfonds fließen, um die Kosten der innerhalb eines Jahres von 2,9 auf 3,8 Prozent gestiegenen Arbeitslosigkeit zu decken. 

Obwohl der Beschäftigungsfonds zuerst aus der Solidaritätssteuer gespeist wird, erklärte Finanzminister Jean-Claude Juncker dem ADR-Abgeordneten Aly Jaerling in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage, weshalb die Solidaritätssteuer nicht an die Entwicklung der Arbeitslosigkeit angepasst werden soll: um jährlich 60 Millionen Euro mehr einzunehmen, müsste der Solidaritätssteuersatz für Betriebe von vier auf 6,5 Prozent und für Privatpersonen von 2,5 auf 4,5 Prozent erhöht werden. Und das scheint weder den Unternehmen, noch den Wählern zumutbar zu sein, so dass lieber mittels der Benzinsteuer auch die Grenzpendler angezapft werden sollen.

Ohne dass die Regierung viel Aufhebens darum gemacht hätte, sieht Artikel sieben des Haushaltsgesetzentwurfs aber auch die Möglichkeit vor, nächstes Jahr die Tabaksteuer um bis zu einem Drittel zu erhöhen (d'Land, 12.09.03). Der LSAP-Abgeordnete und ehemalige Minister Alex Bodry will erfahren haben, dass die Regierung bereits seit mehreren Wochen mit der Tabakindustrie über diese Steuererhöhungen verhandele. Deshalb richtete er am Dienstag eine leicht ironische parlamentarische Anfrage an die Regierung, um sich erklären zu lassen, was Budgetminister Luc Frieden damit gemeint hatte, als er im Juli versprach, außer der Erhöhung der Sozialabgabe auf dem Benzin keine weiteren Steuererhöhungen vornehmen zu wollen.

Die Regierung muss sich aber vor allem vorwerfen lassen, die Konjunktur „schönzureden, statt den Aufschwung zu programmieren", so die Krecké. Nach einem wirksamen Mittel gegen die steigende Arbeitslosigkeit suche sie nicht, bei der Tripartite sei „so gut wie nichts herausgekommen". Über die Gemeindefinanzen sei beim Budgetdepot kein Wirt verloren worden, und das Krankenkassendefizit lauere.

Störend für die LSAP ist natürlich, dass sich ihre Hauptrivalin DP für die Haushaltspolitik gar nicht zuständig fühlt - und der OGB-L samt des künftigen LSAP-Kandidaten John Castegnaro voll des Lobs für den Haushaltsentwurf der Regierung ist. Was LSAP-Präsident Jean Asselborn, der sich ohnehin mit dem OGB-L-Präsidenten etwas schwertut, galant als vorübergehende Taktik im Sozialwahlkampf abtut.

Bleiben zwei Ungewissheiten: die konjunkturelle Entwicklung und die Wähler. Der Konjunktur traut derzeit kaum jemand zu, dass sie noch vor dem 13. Juni merklich anspringt. Der Grüne Bausch schätzt sogar, dass das nationale Wirtschaftswachstum noch lange braucht, ehe es wieder die vier Prozent aufweist, die nötig sind, um das Luxemburger Modell in seiner bekannten Form zu unterhalten.

Und die Wahrnehmung der Wähler stellt den anderen Unsicherheitsfaktor dar. Denn wenn man der anscheinend von niemandem bestellten jüngsten ILReS-Umfrage glaubt, dann haben drei Viertel der 499 telefonisch befragten Wahlberechtigten noch gar nicht mitgekriegt, dass die Wirtschaft seit drei Jahren stagniert Wenn die Wähler aber nichts dabei finden, dass die Wirtschaft auf sehr hohem Niveau stagniert, läuft die Opposition Gefahr, als Miesmacher und Spielverderber gemieden zu werden.

Kein Wunder, dass die Umfrage gleich als Gegengift gegen die im Auftrag des Tageblatts von derselben ILReS veranstaltete Umfrage eingesetzt wurde, laut der die DP die Wahlen zu verlieren droht. Zumindest bis zur nächsten ILReS-Umfrage für das Tageblatt im Dezember.

Der grüne Fraktionssprecher François Bausch wollte sich deshalb am Dienstag lieber nicht unnötig in die Niederungen der die grüne Wählerschaft ohnenhin nicht übermäßig drückenden Konjunkturpolitik herablassen, um dort von einem wenig aussichtsreichen Posten aus mit den anderen Parteien um wirtschaftliche Sachzwänge zu ringen. Für ihn legt die derzeitige Konjunkturflaute nämlich vor allem die Defizite bloß, die seit den Neunzigerjahren bestehen, und für die interessiere er sich „mehr als für das Haushaltsdefizit". Die Grünen verlegen sich deshalb lieber auf das Strukturelle und Grundsätzliche, wie Landesplanung, Bildungs- und Transportpolitik.

Und weil man nicht vorsichtig genug sein kann, haben LSAP und Grüne nun Angst, auch noch in eine Referendumfalle zu treten. Obwohl sie prinzipiell für eine Volksbefragung sind, um die geplante Europäische Verfassung zu ratifizieren, fürchten sie doch, dass die Regierung unter dem Vorwand der organisatorischen Vereinfachung das Referendum zusammen mit den Parlaments- und Europawahlen am 13. Juni abhält. So dass die Regierungskampagne für das Referendum auf Kosten der Opposition den Wahlkampf durchkreuzen kölnnte. Deshalb fordern beide Parteien nun, das Referendum im Herbst nach den Kammerwahlen abzuhalten.

 

Romain Hilgert
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