Kino

Weder Opfer noch Lolita

d'Lëtzebuerger Land vom 21.07.2017

In der ersten Einstellung sitzt ein blasses Mädchen kauernd unter einem Baum vor ihrem Elternhaus. Die dreizehnjährige Una (Ruby Stokes) geht in eine Scheune, wo der Nachbar Ray (Ben Mendelsohn) ihr etwas zeigen will. Der sexuelle Missbrauch wird hier nur angedeutet, hängt aber in der Luft.

15 Jahre später wird man dieselbe Frau sehen, wie sie in einen Nachtclub geht und sich dort in Ekstase tanzt. Es folgt selbstvergessener Sex mit einem Unbekannten auf der Toilette; was von dem Abend zurückbleibt, ist das Bild einer zerbrechlich wirkenden Frau, die im glitzernden Kleid barfuss nach Hause läuft.

In Rückblenden wird man das 13-jährige Mädchen im Gerichtssaal sehen. Die Kamera auf ihr Gesicht gerichtet, wie sie empört, aber entschieden mit weicher Stimme fragt: „Ray, wo bist Du hin? Wieso hast Du mich allein gelassen?“

Es sind Puzzleteile einer verstörenden Kindheit, die der australische Regisseur Benedict Andrews in seinem Filmdebut zu einem vielschichtigen Drama zusammenfügt. Una stellt moralische Fragen und lässt kaum Raum für einfache Erklärungsmuster, wie dem, dass Ray ein psychisch kranker, pädophiler Triebtäter ist. Vielmehr ergibt sich für den Zuschauer ein widersprüchliches, doch trotzdem abstoßendes Bild einer Liebe zwischen einer 13-jährigen und einem Mittdreißiger.

Vor allem Rooney Mara als erwachsene Una glänzt in der Rolle durch ihre Doppelbödigkeit. Nicht schwebend und verloren wie noch in Terrence Malicks’ Song to Song, sondern selbstbewusst und zerbrechlich zugleich wird sie 15 Jahre später ihren Vergewaltiger Ray an seiner Arbeitsstelle aufsuchen und ihn mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit konfrontieren.

Nach vier Jahren Haftstrafe hat dieser eine neue Identität angenommen, seinen Namen geändert, geheiratet und sich in seiner Fabrik zum leitenden Angestellten hochgearbeitet. Alles an seinem autoritären und pseudosouveränen Auftreten zeugt von dem Versuch, sich ein neues, „normales“ Leben aufzubauen.

Es ist Una, die sein Leben von dem Moment an erschüttern wird, in dem sie kokett in die Fabrik hineinspaziert. Dass Benedict Andrews ursprünglich Theaterregisseur ist, zeigt sich nicht zuletzt an der langen Szene in der Fabrik, die wie ein fesselndes Kammerspiel wirkt.

Andrews’ Spielfilmdebut ist mehr als ein gewöhnliches Missbrauchsdrama. Weit davon entfernt, Verständnis für den Täter und seine Motive zu wecken oder ihn gar schützen zu wollen und den sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen zu verharmlosen, stellt Una Fragen über Schuld, das Tabu einer Liebe zwischen einer 13jährigen und einem Mittdreißiger und insbesondere die Gesellschaft als Hüterin der Moral. Beruhigend ist dabei, dass der Regisseur klar auf der Seite der missbrauchten Frau steht – wenngleich er diese Parteinahme an keiner Stelle plump manifestiert.

Mit Una hat Andrews einen provokativen und unbequemen Film gedreht, der das Täter-Opfer-Schema in Frage stellt und es – mit Anleihen an klassische Verfilmungen von Nabokovs Lolita – schafft, dass auch der Blick auf verführerische männermordende junge Frauen einer nuancierten Perspektive weicht. Letztlich liegt neben den starken Darstellern genau darin die Stärke des Films, dass er sich Stereotypen bedient, um diese aufzuweichen. Jenseits von Lolita.

Anina Valle Thiele
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