Mais Madame Le Pen!

d'Lëtzebuerger Land vom 22.04.2022

Sie betritt das Podium, wirft die Arme in die Höhe, in einer Geste der Öffnung, der großen Umarmung zugleich, ein Strahlen geht von ihr aus. Eine Ausstrahlung, eine Strahlkraft. Eine Herzlichkeit. Zuwendung.

Er ist ganz der Maestro, moderierender Dompteur eines Applauses, der noch nicht mal aufgeflammt ist, der Dirigent. Als Verkörperung der Leere erschien mir damals dieser Jüngling, der die Szene betrat mit seiner smarten Crew und seinen global flexiblen Plänen. Bevor ihn das Lokale einzuholen drohte, die kleinen Leute, die klein gemachten Leute in ihren absurden gelben Westen mit ihren beschränkten Wünschen. Jetzt hat er graue Schläfen wie die Herren in altmodischen Romanen, die gut zu seinem gemeißelten Antlitz, zur geschliffenen Rhetorik passen, zum herausfordernd-entschlossenen Napoleon-Blick. Ein Zauberer ist er auch, Einheit in der Vielfalt beschwört er, und Atom wird gar grün. Die Atombotschaft ist, so verkündet er etwas rätselhaft, eine Botschaft des Vertrauens an Frankreichs Jugend.

Jetzt, vor der großen Wahldebatte, erscheinen Kandidat und Kandidatin angespannt, Macrons Stirn wirft Sorgenfalten, Le Pens grobe Gesichtszüge sind übermüdet, sie wirkt angestrengt beim Zuhören. Dann erleuchtet ein Lächeln ihr Gesicht, und sie ist eine andere. Vor allem aber eine wie jede andere, das ist die Botschaft, Präsidentin des Alltäglichen nennt sie sich. Überall und für alle. Sie sorgt sich um ihre Landsleute und will ihnen gar ihr Geld zurückgeben. Bei ihr klingt alles viel einfacher als bei Macron.

Der vergräbt das Kinn in der Hand, beißt sich in den Finger, zugleich gestresster und gelangweilter Schüler. Sein Gegenüber unterfordert ihn, das überfordert ihn. Ironie blitzt auf, Belustigung, dann zynische Genervtheit. Er versucht ihr etwas zu erklären, redet auf sie ein, „mais Madame Le Pen“, wie auf eine kranke Kuh. Die Wellenlänge, die Chemie sind unvereinbar, die politischen Programme sowieso. Bei ihr hapert es bei Intellekt und Bildung, bei ihm bei der Empathie. Zwar kapiert sie von den digitalen Herausforderungen nicht viel, ist aber top im Sichsorgen um Jugendliche im Präkariat. Man denkt, eine Mutter die am Küchentisch sitzt, von Kümmernis zernagt. Eine wie ihr.

Wird Macron am Sonntag siegen, wird es ein schaler Sieg sein. In einer erschreckend verrotteten, kaputten politischen Landschaft, in einer Gesellschaft, in der es keine Mitte mehr gibt. Keine behäbig ruhige stabilisierende schläfrige und zugleich fleißige Mitte, der Mittelverstand ist abgeschafft. Das ist kein französisches Phänomen, aber in Frankreich war die Entwicklung schneller und brutaler als in vergleichbaren Ländern. Immer mehr Existenzen am Rande, eine Gesellschaft am Rande. Wovon? Das weiß niemand so recht. Die früheren Volksparteien sind zu Phantomparteien geschrumpft, die noch Phantomparolen abspulen wie in schwarzweißen Filmen. La Grandeur. La Grandeur spukt immer noch herum, in allen Reden auf allen Seiten.

Die ganz Linken sind, wie die ganz Linken halt sind, abschreckend in ihrem Dogmatismus, lächerlich in ihrem Starrsinn; es ist berührend und lächerlich, Namen wie Antikapitalistische Partei zu lesen, oder Arbeiterpartei. Liebenswert, weil sie an Träumen festhalten, an Utopien, und das ist gut, es ist gut, dass die Utopien gehütet werden, dass sie nicht von der eiskalten Pseudologik des Marktes geschluckt werden. Irgendwer muss die Flamme hüten.

Die Linke von Zampano Mélenchon, einem aufgeblasenen Dreijährigen, der gern dicke Backen macht, einem genialen Dreijährigen allerdings. Seine Reden sind eine Wucht. Reden können sie alle, Charisma haben die meisten auf der französischen Bühne, abgesehen vielleicht von der grünen Schlafmütze, große Worte noch mit imperialer Patina können sie alle schwingen.

Ganz im Gegenteil zu den stillen, nachdenklichen Kolleg/innen in Deutschland. Dort führt kein Zauberer die Geschicke, eher ein Zauderer, inmitten von Panzern und Schlachtfeldnews vernimmt man die Schlafzimmerstimme des Kanzlers kaum. Sandmännchen Scholz, irgendwie beruhigend. Irgendwie beruhigend, so ein Deutschland.

Michèle Thoma
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