Türkei und die EU

Es ist angerichtet

d'Lëtzebuerger Land du 13.05.2016

Vergangenen Dienstag signalisierte der Staatspräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, wie sich die Beziehungen zwischen der EU und seinem Land in Zukunft entwickeln werden. „Rückt doch endlich die drei Milliarden Euro heraus“, sagte er Richtung Europa, als er vor türkischen Geschäftsleuten über die zögernde Reaktion vieler europäischer Akteure auf den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal meckerte: „Um alles bis Juni zu verzögern, haben sie [die EU] 72 Bedingungen genannt. Die sind neu. Fünf davon sind katastrophal. Sie sagen uns, wir sollen das Terrorbekämpfungsgesetz ändern.“

Die Erdogan-treuen Businessleute im Saal wussten, dass das nicht geht. Denn Erdogans politische Strategie geht ohne dieses berüchtigte Gesetz nicht auf. Der selbsternannte Führer der konservativen Türken unterdrückt mit diesem Gesetz jede Opposition gegen seine Pläne, ein Präsidentialsystem einzuführen und alle Macht endgültig in seinen Händen zu konzentrieren. Für Frieden eintretende Kurden, Journalisten, Akademiker, Abgeordnete – alle werden zu Terroristen erklärt. Mit dieser Strategie hofft Erdogan, endlich auch die nationalistischen Hardliner hinter sich zu bringen. So, das glaubt er, könnte eine verfassungsändernde Mehrheit zustande kommen.

Seit Monaten vergleicht Erdogan die Vorteile eines Deals mit der EU mit denen seiner autoritären Politik. Er will herausfinden, welcher Weg ihn schneller und besser zum Ziel führt. Offensichtlich neigt er inzwischen dazu, an seiner eigenen Strategie der Unterdrückung und der Gewalt festzuhalten und sie auszudehnen, anstatt Außenstehende mitreden zu lassen. Dabei geht er bewusst auf Konfrontationskurs mit Europa und verlangt den Deal nach seinen Bedingungen zu machen. Andernfalls droht er mit einem Abkehr der Türkei vom europäischen Weg: „Wir gehen unseren bisherigen Weg. Es gibt immer einen Ausweg. Wir werden trotzen! Wir werden uns nicht beugen!“

Einige Tage zuvor hatte Erdogan den Weg für eine Kehrtwende in der EU-Politik freigeschaufelt. Er entließ mit einer unsanften Aktion den Architekten des Flüchtlings-Deals auf türkischer Seite, den Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Davutoglu, dem Tage zuvor in seiner eigenen Partei alle Kompetenzen aberkannt worden waren, blieb nichts anderes übrig, als sich widerspruchslos seinem Schicksal zu beugen.

Was das für Europa bedeutet, macht am nächsten Tag Erdogans Chefberater Burhan Kuzu klar. Der Jurist, der auch früher aus seinem Hass auf Europa kein Hehl machte, twitterte einen Tag vor der Türkei-Debatte im Europäischen Parlament: „Morgen berät das EP über die Visafreiheit für Türken. Wenn sie eine richtige Entscheidung treffen, wäre das auch für sie gut. Wenn sie eine falsche Entscheidung treffen, schicken wir die Flüchtlinge hin!“

Doch diese Drohgebärden und starken Worte aus Ankara werden in der Türkei nicht unbedingt als Stärke des Erdogan-Regimes verstanden. Im Gegenteil: Vielen ist klar, wie schwach eigentlich die Position des Möchtegern-Despoten in der türkischen Hauptstadt ist. Obwohl er mit einer satten Mehrheit gewählt wurde und auch die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die alle seine Aktionen vorbehaltlos unterstützt, gerade vor einem halben Jahr knapp 50 Prozent der Wähler erhielt, fühlt Präsident Erdogan sich nicht wohl in seiner Haut.

So manövriert er sich politisch immer tiefer in eine Sackgasse und verliert bei jedem umstrittenen Schritt wertvolle Verbündete. Trotz der Propaganda der gleichgeschalteten Medien werden die Menschen mit jedem Tag unsicherer. Das einzige, was die sunnitisch-türkische Bevölkerungsmehrheit noch zusammenhält, ist der Krieg gegen die Kurden und das dadurch gestiegene nationalistische Gefühl.

Aber auch der Krieg gegen die Kurden läuft nicht, wie geplant. Gegen die Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) behalten die türkischen Sicherheitskräfte zwar die Oberhand. Doch mit einem so erbitterten Widerstand hatte weder Erdogan, noch seine Gefolgschaft gerechnet.

Außenpolitisch steckt der Präsident ebenfalls in der Klemme. Sprach er vor einigen Jahren in hohen Tönen von einem möglichen Einmarsch in Syrien, demonstriert ihm und der ganzen Welt der sogenannte Islamische Staat (IS), wie machtlos er tatsächlich ist. Seit Wochen beschießen IS-Kämpfer über die Grenze hinweg die türkische Stadt Kilis mit Raketen. Das Ergebnis bisher: Dutzende Tote und Hunderte Verletzte. Dennoch begnügt sich die türkische Armee ihrerseits mit einem Beschuss über die Grenze hinweg. Denn eins ist seit dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe im vergangenen November klar: Sobald ein türkischer Soldat auch nur einen Schritt ins benachbarte Syrien wagt, wird sich die russische Militärmacht gegen die Türken in Bewegung setzen. Rückendeckung für einen Einmarsch ins Nachbarland bekommt Erdogan von seinen westlichen Nato-Partnern bisher nicht, alleine scheint das Risiko (noch) zu groß.

Dennoch fürchten die wenigen verbliebenen kritischen Stimmen in der Türkei nichts mehr als einen Alleingang des politischen Remplers Erdogan. Durch seine öffentliche Absage an die türkische Verfassung und wegen seines illegalen Vorgehens gegen die Justiz, finden sie, habe er sich als Staatspräsident diskrediert. Dennoch sei Erdogan im Stande, das Land in den Sog des syrischen Bürgerkrieges zu führen, da er Schlüsselpositionen innerhalb des Staatsapparates mit seinen Gefolgsleuten besetzt und vor allem Armee, Polizei und den Geheimdienst in seiner Hand habe – so wie viele Diktatoren es tun, wenn sie in die Ecke getrieben werden. Dass ein erneutes Nachgeben Europas Erdogan von riskanten Abenteuern letztendlich abhalten wird, bezweifeln die Kritiker.

Cem Sey
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