Die deutschen Sozialdemokraten sind zerrissen

Die nächste Rettung

d'Lëtzebuerger Land du 27.04.2018

Heiliger Martin, heilige Andrea. Die Litanei aller Heiligen der deutschen Sozialdemokratie ist lang – und kennt viele Namen. Nun ist es die Heilige Andrea, zu der alle Bitt- und Stoßgebete der Genossinnen und Genossen aufsteigen. Möge sie die älteste Partei Deutschlands wieder zu Glanz und Glorie führen, sie einen und vor der Bedeutungslosigkeit erretten. Geholfen hat all das Flehen indes nichts, denn die SPD, der Andreas Nahles nun vorsteht, strafte ihre neue Parteivorsitzende zugleich bei ihrer Wahl ab. Nur zwei Drittel der Delegierten des Wiesbadener Parteitags vom vergangenen Wochenende stimmten für Nahles. Ein Debakel. Nachdem Martin Schulz vor Jahresfrist mit hundert Prozent ins oberste Parteiamt gehievt wurde. Obwohl: gewählt – ist gewählt. Doch anstatt die Rheinland-Pfälzerin mit einem starken Mandat für die Erneuerung der Partei auszustatten, zeigt die deutsche Sozialdemokratie wieder einmal ihre Zerrissenheit.

In ihrer Bewerbungsrede machte Nahles deutlich, was Erneuerung der Partei unter ihr als Vorsitzenden bedeutet. Dabei fällt vor allen Dingen auf, dass sie keinerlei Zugeständnisse an die Kritiker der Großen Koalition oder Hartz-IV-Skeptiker macht. Vielmehr dürfe die SPD nicht als zwei Parteien auftreten, mahnt sie, einmal als Regierungspartei und einmal als Regierungskritikerin. Gerne sei sie dazu bereit, den Sozialstaat zu reformieren, mehr Bürgernähe zu schaffen, ihn weniger bürokratisch und gerechter zu gestalten. Aber: „Wenn wir Hartz IV abschaffen und die Agenda 2010 abwickeln, haben wir noch keine Frage beantwortet.“ Zwischenrufe lassen sie unbeeindruckt, sie will über die Zukunft, nicht über die Vergangenheit reden: „Lasst uns die Debatte mit Blick auf das Jahr 2020 führen und nicht auf das Jahr 2010.“

Was es mit Andrea Nahles nicht geben wird, machte ihre Herausforderin um den Parteivorsitz, Simone Lange, in ihrer Bewerbungsrede deutlich: Der Zustand der Sozialdemokratie sei leider ein anderer, als die Menschen es von der Volkspartei erwarteten. „Uns fehlt es an Teamspiel, an Offenheit und Glaubwürdigkeit.“ Den Namen der Kontrahentin erwähnt Lange dabei nicht. Doch die Parteitagsdelegierten wissen, dass diese drei Tugenden mit der erfahrenen Bundespolitikerin Nahles nicht zu haben sind. Und so wird es ein vager Blick in die Zukunft sein, ein Kaffeesatzlesen darüber, wie Nahles ihre Partei nun auf die Herausforderungen des gesellschaftlichen und politischen Wandels in Deutschland und Europa vorbereiten wird, welche Themen sie als sozialdemokratischen Kern definieren und ausgestalten wird. Die SPD hat wie keine andere Partei in den vergangenen Monaten eine hohe Zahl an Neumitgliedern gewonnen, die vor allen Dingen in die Partei eingetreten sind, um nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch die Politik zu verändern – in einem nicht radikalen, populistischen oder extremistischen Weg. Die Hoffnungen dieser werden nun wohl den Machterhaltungsmechanismen der Parteispitze hintenanstehen müssen. Dafür war der Weg von Andreas Nahles durch die Parteiinstanzen zu lang und zu steinig, als dass sie nun mit der vagen Aussicht auf Erneuerung alle ihre persönlichen Ambitionen hintenanstellen wird. 30 Jahre ist sie Mitglied der Partei, war Generalsekretärin, Bundesarbeitsministerin, Juso-Vorsitzende, gründete einen Ortsverein und war immer zu Stelle, wenn die Parteidisziplin es verlangte.

So zwiegespalten die Partei ist, so zwiespältig fällt auch das Urteil über Nahles aus: Die SPD solle froh sein, nach einem desolaten Wahlergebnis bei der Bundestagswahl im vergangenen September „noch eine Frau in petto zu haben, deren ganzes politisches Leben Vorbereitung auf diese große Aufgabe war“, kommentiert etwa Christoph Schwennicke in der Zeitschrift Cicero. Ganz nebenbei sei sie auch im Urteil von Unionspolitikern eine der stärksten Ministerinnen im vorigen Kabinett Merkel gewesen. „Aber die SPD hat eine suizidale Loser-Lust. Sie schießt ihrer neuen Vorsitzenden schon zum Start in die Beine. Und das zu einer Zeit, in der der Autoritätsverlust von Angela Merkel in den Unions-Reihen jeden Tag mehr mit Händen zu greifen ist.“ Doch die Rolle als derjenigen, die Bundeskanzlerin Merkel herausfordert, hat Andreas Nahles in ihrer Wiesbadener Rede selbst abgelehnt. Sie sieht sich – ähnlich wie Sigmar Gabriel, einer ihrer Vorgänger als SPD-Vorsitzender – an den Koalitionseid gebunden. Auch im Namen der Partei. Diese hat aus Mangel aus Alternativen den ersten Schritt in die oft geforderte Erneuerung verpasst und setzt auf: „Weiter so!“

Manch eine Genossin und manch ein Genosse sehnt sich nach Martin Schulz zurück. „Der war zu aufrichtig, zu weich, zu unsicher, aber gerade deshalb“, schreibt ein Parteimitglied auf Facebook. Und weiter: „Ansonsten weiß ich derzeit auch nicht weiter. Es gibt eine Menge toller Leute in dieser Partei, aber seit der Agenda 2010, als sich die Partei getraut hat (oder war es da auch schon Angst), das Falsche durchzudrücken, gibt es keinen Plan mehr, was man eigentlich will.“ Dabei lägen die Themen auf der Straße. „Opposition statt Machtinstinkt und Machterhalt wäre besser gewesen.“ Er bekommt viele Likes.

Martin Theobald
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