Der politische Streit ums neue Schulfach Vie et Société hat sich gelegt, jetzt kehrt der Alltag ein. Ein Unterrichtsbesuch

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d'Lëtzebuerger Land du 27.04.2018

Auf der Tafel steht das Thema der Unterrichtsstunde in großen Buchstaben geschrieben: Gerechtigkeit = Gleichheit? „Ist die Szene, die ihr hier seht, gerecht?“, fragt Lehrerin Lynn Conter und zeigt auf eine Karikatur, die sie zuvor an ihre 8e-Schüler ausgeteilt hat. Die Zeichnung ist ein Klassiker unter Lehrpersonen: Sie zeigt Tiere vom Affen bis zum Pinguin, die in Reih und Glied eine Prüfungsaufgabe abwarten. Hinter ihnen steht ein Baum. „Zum Ziele einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich. Klettern Sie auf den Baum“, steht in der Sprechblase des streng blickenden Prüfers geschrieben.

Die Schüler denken nach, manche flüstern und beraten sich. Ihre Klasse – und die Leitung des Diekircher Nordstad-Lyzeums – waren bereit, die Tür zu öffnen, um Einblick in ein Fach zu geben, das jahrzehntelang für Streit und Schlagabtausche sorgte: Vieso, Vie et société. Seit diesem Jahr ist das allgemein verpflichtende, neu geschaffene Fach, das nach heftigen Polemiken die Formation morale et sociale respektive den katholischen Religionsunterricht ersetzt, an den Grund- und Sekundarschulen gestartet. 418 Lehrbeauftragte der Sekundarstufe und 1 800 Grundschullehrer haben das Einführungsseminar des Weiterbildungsinstituts Ifen in Walferdingen seit Herbst 2016 besucht. Ein guter Zeitpunkt, um hinter die Kulissen zu schauen, was in dem Fach wirklich geschieht.

Die Jugendlichen studieren die Karikatur, dann schnellen erste Finger in die Höhe: „Ja, Lia*?“, ruft die Lehrerin eine Schülerin mit grauem Sweatshirt und dunklen Haaren auf. Sie sagt, was sie denkt. Nein, die Prüfungssituation sei nicht gerecht, denn ein Goldfisch könne keinen Baum hinaufklettern. Ein Klassenkamerad widerspricht ihr: „Es ist die gleiche Aufgabe für alle, darum ist es gerecht“, wendet er ein. Schon bald kommt eine Kontroverse in Gang. „Wie könnte die Aufgabe aussehen, damit sie gerecht ist?“, ist die nächste Überlegung, die Sozialwissenschaftlerin Conter, die als eine der ersten den neuen Master zum Fach an der Uni Luxemburg absolviert hat, den Schülern auf den Weg gibt. Die Zeichnung ist gut gewählt, um die Grenzen und Problematiken der Gleichung Gerechtigkeit = Gleichheit aufzuzeigen. Die Lehrerin hat überdies Textaufgaben vorbereitet, die sie vorlesen lässt. In einem Beispiel geht es um eine junges Mädchen, das mit ihren Eltern aus Syrien geflüchtet und noch nicht lange im Land ist und nur wenig Deutsch spricht, sowie einen behinderten Jungen, der wie das Mädchen dieselbe Prüfung schreiben soll. Auch hier wird schnell deutlich, dass eine eindeutige Positionierung nicht so leicht fällt. Während die einen die Aufgabe als gerecht ansehen, ist Tom* gar nicht einverstanden: „Das wäre ja so, wie wenn wir nach Syrien gingen und dort plötzlich eine Arbeit in ihrer Sprache schreiben müssten.“ Ein anderer Schüler fällt ihm ins Wort: „Es gibt ja noch andere Fächer und außerdem können sie ja besser werden“, argumentiert er. Müsse man sonst nicht eine Prüfung für jedes Leistungsniveau schreiben? Die Lehrerin hält sich zurück. Sie greift die Gedanken der Schüler allenfalls auf, spinnt sie weiter oder ändert ein Detail in der Fragestellung, damit Schüler dahinterliegende Motivationen ergründen.

Was auffällt: Kein Schüler wird wegen seiner Meinung oder Sichtweise attackiert oder heruntergemacht, die Diskussion verläuft kontrovers, aber in geordneten Bahnen. „Ich bewerte keine Meinung eines Schülers oder einer Schülerin, sondern lediglich die Argumentation. Also: Wie schlüssig wird argumentiert?“, betont Lynn Conter. Weil das Fach neu ist und nur wenige Außenstehende wissen, was dahintersteht, halten sich einige Vorurteile hartnäckig. Etwa, dass Kinder und Jugendliche auf ihre Meinung hin bewertet werden. Das kann nur behaupten, wer sich nicht mit dem Rahmenlehrplan auseinandergesetzt hat: Laut Lehrplan gibt es drei übergeordnete Ziele: Offenheit, Respekt und Toleranz in einer multikulturellen Gesellschaft zu lernen, ist eines. Kritisches Denken und Abwägen unterschiedlicher Standpunkte ist ein anderes. Und schließlich die „großen Fragestellungen“ des Lebens und der Gesellschaft zu erkunden. Das war das Ziel, um das am heftigsten politisch gerungen wurde: Wie viel Religion und christliche Werteerziehung gehört in den Stundenplan, inwieweit soll der Kurs wertneutral sein? Andere Themen sind zum Beispiel Liebe und Partnerschaft, Arbeit und Konsum, Wirtschaftsethik...

Denn ohne Werte kommt das Fach nicht aus. „Wir arbeiten auf der Grundlage der Menschenrechte und demokratischen Spielregeln“, betont Conter. Schüler sollen einander zuhören und ausreden können, sie sollen Meinungsunterschiede aushalten und argumentieren lernen. Das bedeutet nicht, dass nicht auch radikale politische Positionen vorgestellt und im Streitgespräch vertieft werden können. Allerdings verbietet das Überwältigungsverbot dem Lehrpersonal die Schüler zu indoktrinieren, und sind sie aufgefordert, sich mit ihrer Meinung zurückzuhalten.

Ein reines „Laberfach“, wie manche im Vorfeld polemisiert hatten, ist es nicht, denn eben diese Balance, den Raum für unterschiedliche Positionen zu schaffen und zugleich eine Debattenkultur, basierend auf Argumenten und Wissen, zu entwickeln, ist, das zeigt dieser Montagmorgen, methodisch anspruchsvoll. Aber es gelingt, weil die 8e-Schüler offenbar bereits in einer vorigen Unterrichtsstunde über Vielfalt und Unterschiedlichkeit nachgedacht haben. Auf dem Blatt, das die Lehrerin ausgeteilt hatte, lernen sie zwei Formen der Gerechtigkeit nach dem griechischen Philosophen Aristoteles kennen: die austeilende Gerechtigkeit, die möglichst alle Menschen gleichmäßig versorgen soll, und die ausgleichende, die jenen mehr gibt, die weniger oder nichts haben. Auch ein Verweis auf die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum, die den Gerechtigkeitsbegriff im Kontext von Wohlfahrtssystemen analysiert hat, ist dabei.

Anders als früher legen die Schulmaterialien (die zu dieser Lehreinheit hat Lynn Conter selbst entwickelt und sich an Handreichungen zum Fach orientiert) einen stärkeren Akzent auf die Verknüpfung von Methodik und Inhalten. Als die ersten provisorischen Lehrerhandreichungen vom Ministerium vorgestellt wurden, verlief die Präsentation insofern unglücklich, als eine Aufgabe ausgerechnet den vom Europarat in Straßburg kritisierten Kreationismus unbeholfen aufgriff. Lehrer können, sagt Jean-Marie Kieffer, Koordinator beim Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques, Materialien online abrufen und künftig auch Feedback (www.vieso.lu) äußern.

Im Unterricht lässt sich erst erkennen, wie eine reflexive Praxis aussieht. Die Schüler des Nordstad-Lyzeums spulen jedenfalls kein auswendig gelerntes Wissen herunter. Sie sind angehalten, sich eigene Gedanken zu machen, ein Problem erst umfassend zu begreifen, Motive und Hintergründe der Beteiligten abzuwägen, auch Regeln zu erkennen und gegebenenfalls zu hinterfragen.

Das geht umso besser, je früher Kinder üben. In der sonnendurchfluteten Grundschule in Kayl-Tetingen lässt Vieso-Lehrerin Carrie-Lee Simon an diesem Dienstagmorgen Konfliktsituationen, die auf handtellergroße Karten gezeichnet sind, von ihren Schülern nachspielen. Gerade geht es um „Du wirst beleidigt“. In der Szene ruft ein Schüler einer Klassenkameradin „Dumm, dumm, dumm, dumm“ hinterher. Sie braust auf. Hinterher analysiert die Klasse gemeinsam, wie die Protagonisten das Problem gelöst haben: „Wer hat erreicht, was er wollte?“, fragt die Lehrerin in die Runde. Finger schnellen nach oben: „Der Pol*. Weil er sie provoziert hat und das hat geklappt!“, sagt eine und alle nicken zustimmend. Dann spielen die Kinder dieselbe Szene noch einmal – mit einer Variante. Die Beleidigung kommt, aber dieses Mal bleibt die gefoppte Schülerin cool. Alle sind sich einig: So ist es besser. Neue Szene, gleiche Übung: Die Kinder bekommen einen Konflikt und sind aufgefordert, ihn zu verstehen und zu lösen. Nicht bloß aus dem Gefühl heraus, sondern begründet. Und sie haben Spaß dabei. Eifrige Finger strecken sich wieder in die Höhe, „einige sind etwas zurückhaltender heute“, sagt Carrie-Lee Simon. Auch das ist eine Erkenntnis: Eine Meinung zu haben, Position zu beziehen, erfordert Haltung und bisweilen sogar Mut.

Die Lehrerin hat, um das Fach unterrichten zu dürfen, die obligatorische 16-Stunden-Weiterbildung am Ifen absolviert. Der Kurs bietet bloß eine Einführung, aber: „Eine Anleitung ist wichtig, nicht nur, um mit so sensiblen Themen wie Gefühlen und Konflikten korrekt umzugehen“, findet Simon. „Wir bekommen teilweise Dinge mit und diskutieren sie mit den Kindern, die andere Lehrer nicht sehen.“ Das Thema Konfliktbewältigung hatte sie im vergangenen Sommer geplant, im Juni kommt die Polizei zur Prävention in die Schule, dann soll auch über Cybermobbing gesprochen werden – ihr Unterrichtsstoff ist damit topaktuell. Erst kürzlich sorgte der Brandbrief einer Kindertagesstättenleiterin dafür, die Gewaltproblematik landesweit auf die Tagesordnung zu setzen.

Carrie-Lee Simon wünscht sich mehr systematischen Austausch mit Kollegen vom Fach – und mehr Zeit. Austausch darüber, welche Methoden besser und welche schlechter funktionieren. Sie hält die Vieso-Stunden sämtlicher Klassen an ihrer Schule. Eine Stunde ist nicht viel, wenn Inhalte verstanden, Rollenspiele geübt, Feedback gegeben werden soll. Ihre Profi-Meinung ist vielleicht demnächst auch gefragt: Das Ministerium überlegt, Lehrer und Schüler zur Umsetzung des Rahmenlehrplans erneut zu befragen, um gegebenenfalls Verbesserungen vorzunehmen und interessierte Anfragen aus dem Ausland beantworten zu können. Eine erste Umfrage wurde bereits durchgeführt, sie war aber nicht repräsentativ. Grundsätzlich scheint das Fach besser anzukommen, als nach dem Streit zu erwarten war, auch wenn es als Nebenfach nicht gerade so viel in der Bewertung zählt. Gilles Retter von der zuständigen Programmkommission sieht Verbesserungsmöglichkeiten bei der Ausbildung: „Die Herausforderung ist, einen Unterricht auf die Beine zu stellen, der weniger auf reine Wissensvermittlung, sondern stärker auf Methoden und die Einbindung der Schüler setzt.“ Zuletzt wurden sieben neue Lehrer eingestellt, von ihnen erhofft sich Gilles Retter weitere Impulse für das Fach. Nach einem turbulenten Start klingt er im Großen und Ganzen optimistisch: Es sei „noch Überzeugungsarbeit“ zu leisten, aber mit der neuen „Lehrergenera-
tion wird das schon“.

* Name geändert

Ines Kurschat
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