Luxleaks: Strafrecht, Menschenrechtskonvention, Rechtssicherheit und Rechtsempfinden

It’s a dirty job...

d'Lëtzebuerger Land vom 13.05.2016

Geldbußen und jeweils 18 Monate Haft verlangte der beigeordnete Generalstaatsanwalt David Lentz in der dritten und letzten Luxleaks-Prozesswoche für Antoine Deltour und Raphaël Halet. Lentz sieht alle Tatbestände, wegen derer Deltour, Halet, sowie der Journalist Edouard Perrin vor Gericht stehen, als erwiesen an. „Unfassbar“, twitterte der grüne EU-Abgeordnete und Luxleaks-Zeuge Sven Giegold, „Haftordnung für Luxleaks-Whistleblower widerspricht jedem Gerechtigkeitssinn. Er verdient Schutz.“

Doch David Lentz, der am Dienstag deutlich machte, dass seine Rolle keine besonders angenehme sei, sie aber jemand wahrnehmen müsse, hatte weniger den Gerechtigkeitssinn von Europaabgeordneten im Sinn als das Rechtsempfinden zuhause. Man werfe der Luxemburger Justiz vor, den drei Angeklagten den Prozess zu machen. „Dieser Prozess musste stattfinden“, so Lentz. Ihn zu verwehren sei „ein flagranter Mangel an Demokratie.“ Über die Angeklagten, für die er durchaus Sympathien zu hegen scheint – er beglückwünschte Edouard Perrin ausdrücklich zu dessen Arbeit – würde aufgrund der Faktenlage geurteilt. „Warum sollten sie eine Vorzugsbehandlung erhalten?“, fragte Lentz, im Vergleich zu anderen Angeklagten, denen man die gleichen Tatbestände vorwirft.

Es ging Lentz auch um Rechtssicherheit. Luxemburg habe eine der modernsten Whistleblower-Gesetzgebungen in Europa, so Lentz, aber der Rahmen sei strikt abgesteckt.1 Man könne nicht jedweder Art von „Denunzianten“ Tür und Tor öffnen, die ihrem Arbeitgeber schaden wollen.

Genau das ist es natürlich, was die Verteidigung sauer macht. Dass der Staatsanwalt sich auf die Diskussion, ob Antoine Deltour und Raphaël Halet Whistleblower sind, gar nicht einlassen will.

Lentz erklärte das wie folgt: Antoine Deltour habe keine präzise Vorstellung davon gehabt, was er mit den Rulings anfangen soll, als er sie am 13. Oktober 2010 kopierte. „Er hat einen Diebstahl begangen. Das ist alles.“ „Er hatte nicht den Animus des Whistleblowers“ – Hervé Hansen, Vertreter der Zivilpartei PWC, hatte einige Brocken Schullatein ausgepackt, um seinen Argumenten mehr Gewicht zu geben.

Niedere Beweggründe trieben Raphaël Halet laut Lentz, als er seinerseits Steuererklärungen als Email-Anhänge hochlud, um sie Edouard Perrin zu überlassen. Er sei nicht zufrieden gewesen mit der Organisation der Sekretariatsarbeiten in der Steuerabteilung von PWC. Halet hatte gegenüber PWC gesagt und auch bei der Beschlagnahmung in seinem Haus zu Protokoll gegeben, er habe mit Perrin Kontakt aufgenommen, um den ersten „Maulwurf“ zu ermitteln. „Raphaël Halet ein Whistleblower? Wer soll das glauben?“, so Lentz. Darauf, dass PWC mit der Androhung von Schadensersatzforderungen von zehn Millionen Euro großen Druck auf Halet ausgeübt hatte, und ihm im Gegenzug für seine volle Kooperation versprochen hatte, ihn nicht strafrechtlich zu verfolgen – was seine widersprüchlichen Aussagen erklären könnte –, ging Lentz nicht ein.

Dabei sitzt der Journalist Edouard Perrin nur aufgrund dieser widersprüchlichen Aussagen auf der Anklagebank. Lentz machte sehr deutlich, dass man Perrins Recht auf freie Meinungsäußerung nicht streitig machen wolle – deshalb ist er auch nicht im Zusammenhang mit seiner Zusammenarbeit mit Antoine Deltour belangt. Doch laut Lentz müsse man beim Verweis auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht nur den ersten, sondern auch den zweiten Absatz lesen.2 Ein Journalist dürfe das Gesetz nicht verletzen, um an sein Ziel zu gelangen. Genau das, glaubt der Staatsanwalt, soll Perrin getan haben, indem er Halet anwies, ein Email-Konto einzurichten und die Unterlagen dort in Email-Vorlagen abzuspeichern, und er ihn nach Dokumenten gefragt hat, die ihm Halet angeboten hatte, die sich aber noch nicht im Besitz seiner Quelle befanden.

Nicht einmal Lentz stellte in Frage, dass die Öffentlichkeit ein Interesse an den von Deltour, Halet und Perrin offengelegten Fakten hatte; sie hätten „fragwürdige Praktiken“ aufgedeckt, der Rechtsrahmen habe sich seither weiterentwickelt. Doch darüber, ob sie illegale Handlungen aufgedeckt haben, gibt es weniger Konsens. Darauf, dass Luxemburg seine Pflichten zum Austausch der Rulings im Sinne einer entsprechenden Richtlinie aus dem Jahre 1977 nicht erfüllt habe, hatte der Vorsitzende Richter Marc Thill während des Prozesses nicht wirklich viel hören wollen. Auch nicht davon, dass die EU-Wettbewerbsbehörden derzeit die Steuerbescheide multinationaler Unternehmen aus dem Blickwinkel der Staatsbeihilfen untersucht. Wobei Amazon der einzige Fall ist, den die Kommission untersucht und der in den Luxleaks-Unterlagen vorkommt. Sie hat darüber noch keine Entscheidung bekanntgegeben.

Doch vielleicht hätte man gar nicht ins Ausland blicken müssen, um die Legalität der Rulings, beziehungsweise ihres Inhaltes, in Frage zu stellen. Denn ins Luxemburger Recht aufgenommen wurden die Steuerbescheide erst im Herbst 2014, kurz vor den Luxleaks-Veröffentlichungen, mit dem Zukunftspak. Darin schuf die blau-rot-grüne Regierung erst eine rechtliche Grundlage, vorher gab es lediglich ein Rundschreiben der Steuerverwaltung. Die Regierung gestand in den Kommentaren zum Entwurf außerdem ein, dass die Luxemburger Gesetzgebung in punkto Transferpreise, die in den Rulings angewandt werden, die internationalen Standards nur indirekt widerspiegelten.3

Wenn der Staatsanwalt die Aufrechterhaltung der demokratischen Verhältnisse en interne und die Luxemburger Gesetze im Blick hat, sowie die Gleichbehandlung aller mutmaßlichen Gesetzesbrecher, so bleibt das Verfahren in einigen Punkten hinter den Erwartungen der Öffentlichkeit zurück. Die Frage, ob Deltours und Halets ehemaliger Arbeitgeber PWC nicht selbst das Berufs- und Geschäftsgeheimnis verletzt hat, indem ein Informatiksystem benutzt wurde, das systematisch Leuten Zugang zu Daten gab, auf die sie anscheinend nicht hätten zugreifen dürfen, wurde nicht diskutiert und bleibt ungeklärt. Ebenfalls völlig ignoriert bleibt, ob PWC die Hoheitszeichen einer Verwaltung missbraucht hat, beziehungsweise der Dokumentenfälschung verdächtig sein könnte, wenn die Firma den Briefkopf der Steuerverwaltung vorsorglich auf die Unterlagen setzte. Oder ob dieser Vorgang dadurch, dass der Steuerbeamte Marius Kohl die Unterlagen abstempelte und unterzeichnete, nur ungeheuerlich, aber nicht illegal ist. So bleibt unklar, ob, wie die Verteidigerin von Raphaël Halet, May Nalepa, es am Mittwoch ausdrückte, die Angeklagten lediglich die Moral auf ihrer Seite haben und PWC das Recht.

Auch wenn Beobachter wie Sven Giegold die Haftforderung des Staatsanwalts für „unfassbar“ halten – Lentz ist mit seinen Strafforderung weit hinter dem Maximum geblieben, das er hätte fordern können und hat den Richtern einen Kompromiss vorgezeichnet. Er stelle sich nicht dagegen, dass die geforderten Haftstrafen vollständig auf Bewährung ausgesetzt würden, so Lentz. Am 29. Juni wollen die Richter ihr Urteil verkünden. Dann wird sich zeigen, ob sie die Quadratur des Kreises gelöst haben und Strafgesetzbuch, Menschenrechtskonvention, Rechtssicherheit, Rechtsempfinden, Gerechtigkeit und Standortpolitik miteinander in Einklang bringen können.

1 Sie sieht vor, dass Mitarbeiter, die Korruption, Einflusshandel bei ihrem Arbeitgeber selbst oder den zuständigen Behörden denunzieren, arbeitsrechtlich geschützt werden.
Michèle Sinner
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