Theater

Wirklichkeitssplitter

d'Lëtzebuerger Land vom 20.04.2018

Schon der Titel ist ein Zungenbrecher: Splittergesichte ist Daniel Dumonts Debüt als „Autor in residence“ im Théâtre national du Luxembourg in der Spielzeit 2017/2018. Er selbst führt in dem Stück Regie. In seiner (Antritts-)Rede vom Theater stellt Dumont – genau wie schon seine Vorgänger Rafael Kohn und Olivier Garofalo – grundsätzliche, politische Fragen und erklärt, dass er die totgesagte Kunstform der Tragödie wiederbeleben wolle. Verhängnisvolle Zusammenhänge und katastrophale Entwicklungen, die als Zwang und unentrinnbar erlebt werden, gebe es im wahren Leben, schuldhafte Verstrickungen hätten ihren Platz auf der Bühne. Wer schuldig ist, wer unschuldig, ist bei Dumont, der Inszenierungen bei der freien Theatergruppe „aufBruch“ mit Inhaftierten und Schauspielern an öffentlichen Orten in Berlin realisiert, eine Grauzone.

Das Bühnenbild (Anja Mikolajetz) ist ausgefallen: graue Säulen, Torbögen, durch die die Schauspieler entschwinden können. Es wirkt magisch-verwunschen, das Grau vermittelt zugleich Einsamkeit. Im Kontrast dazu stehen die blass-rosa-pfirsichfarbenen Kostüme der beiden Schauspielerinnen, die dennoch mit dem Grau harmonieren. Josiane Peiffer als kaltblütig-kalkulierende Spitzenkandidatin Renate Stengelmann zerbricht zu Beginn fast an einer Nachricht: Ihr Ehemann Ludwig ist raus aus dem Politgeschäft. Sein Tod ebnet der Spitzenpolitikerin den Aufstieg. „Du hast Vater in den Tod getrieben!“, ist sich Tochter Halina (Melanie Isakowitz) sicher. Doch noch ist alles unklar. War es ein Unfall? Selbstmord oder ein Verbrechen? Ist Ludwig Stengelmann wirklich tot? Und wer ist der streunerhaft wirkende Mann, der plötzlich auftaucht? Das grandiose Pantomimenspiel Luc Feits in den drei Rollen des verstorbenen Vaters, des Onkels und eines Unbekannten sorgt dafür, dass die Inszenierung rasch Fahrt aufnimmt, etwa, wenn er einer Zitrone komplizenhaft zuflüstert: „Sei nicht sauer!“

Josiane Peiffer als Spitzenpolitikerin, die über Leichen geht, wirkt dagegen blass. Das eiskalte Wesen nimmt man ihr nicht ab. Was ist hier Schein? Was kein Trug(bild)? Der selbstbeschwörende Monolog der Staatsanwältin aus einer Politiker-Dynastie wirkt hölzern – vor allem, wenn sie ein Podest besteigt und im Stile von Chaplins The Great Dictator aufs Volk hinab spricht und Phrasen drischt ...

Doch wenn sie davon schwadroniert, dass „wir zu einem neuen Menschsein und Miteinander finden müssen“, wirkt das grotesk und erinnert verblüffend an die ewig gestrige Rhetorik der neuen Führer. – Ein gelungener Coup Daniel Dumonts, bei dem das verlogene Privatleben der Stengelmanns als Parabel fürs Politische herhält und der in seiner Rede vom Theater fragt: „Ist unser Zusammenleben bedroht? Sind die Bande in unserer Gesellschaft und Weltgesellschaft zerrissen? (...) Wäre es nicht gut, die Wirklichkeitssplitter zusammenzufügen?“

Schauspielerisch beeindruckt Feit in jeder Sekunde, ob als herumlungernder Taugenichts mit Sozialneid oder als Onkel. Ihm fallen die Schlüsselsätze zu, um den Zustand des krankenden Familien-Mikrokosmos der Stengelmanns schnöde auf den Punkt zu bringen: „Alles kränkelt und ist abgestanden!“ Und wenn er splitternackt und zerzaust von den Toten auferstanden auf der – am Ende in apokalyptisch rotes Licht getauchten – Bühne steht, will man dem Regisseur sogar die Überzeichnung seiner lieblichen Frauenfiguren verzeihen.

Daniel Dumont zeichnet mit Splittergesichte das Bild einer sich zersetzenden Gesellschaft, in der die Intrigen im Privaten nicht vom Politischen zu trennen sind. Seine Tragödie ist kein ganz großer Wurf, aber sie zeigt, dass kluge Inszenierungen ohne zu viel Aufwand und kitschiges Happy-End möglich sind. Die in seiner Rede vom Theater formulierte Intention klingt fast lapidar: „Wer zu lange schweigt, tickt aus. Und wo die Politik aufhört, ist Gewalt und Krieg. Nicht jedes Drama ist eine Komödie mit glücklichem Ausgang ...“ Vielleicht besteht der Schlüssel zum Erfolg manchmal gerade darin, die Latte nicht zu hoch zu legen. Dumonts Regiedebüt am TNL ist nicht zuletzt gelungen, weil es am Ende dem Zuschauer überlassen ist, die Wirklichkeitssplitter zusammenzufügen.

Daniel Dumont trug seine Rede vom Theater am 26. März 2018 im CNL vor. Der Text ist als Heftchen erschienen und kann für 5 Euro beim Centre national de littérature bestellt werden:
https://shop.literaturarchiv.lu/fr/essais/175-rede-vom-theater-3.html

Splittergesichte; Text und Regie: Daniel Dumont; Bühne: Anja Mikolajetz; Mit: Luc Feit, Melanie Isakowitz, Josiane Peiffer; weitere Spieltermine: heute Abend, 20. April, um 20 Uhr und am Sonntag, 22. April, um 17 Uhr im TNL. Eine Produktion des Théâtre National du Luxembourg; www.tnl.lu.

Anina Valle Thiele
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