Premierminister Xavier Bettel (DP) über das Ende des einstigen Trios Bettel-Schneider-Braz, das angespannte Koalitionsklima und die Probleme der Medienbranche

„Ich wünsche mir Ruhe“

Xavier Bettel ist seit 2013 Premierminister und noch lange nicht amtsmüde
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 29.11.2019

D’Land: Herr Staatsminister, Sind Sie amtsmüde?

Xavier Bettel: Nein. Ich wache jeden Tag mit der gleichen Freude und Energie als Premierminister auf wie am ersten Tag.

Sie wirken jedoch zunehmend abwesend: Sie halten fast keine Presse-Briefings, entziehen sich öffentlichen Debatten und sind auch sonst schwer zu erreichen. Das war schon einmal anders.

Das stimmt, ich kommuniziere weniger. Aber als ich zu Beginn meiner Amtszeit als Premier jede Woche die Presse eingeladen habe, hat man mir vorgeworfen, zu oft inhaltslose Briefings abzuhalten. Mittlerweile bin auch ich der Überzeugung, dass man nicht wegen drei neuer Paragrafen eine Pressekonferenz organisieren soll. Und ich will auch lieber den Ministerkollegen selbst die Bühne überlassen, um ihre eigenen Projekte vorzustellen. Denn ich bin nicht der Porte-Parole der Regierung.

Vielen Bürgern fehlt es jedoch an einer klaren Vision – einer Richtung, in die sich dieses Land entwickeln soll jenseits von Business as usual. Also das, was Alex Bodry einmal als „gemeinsames Projekt“ bezeichnet hat. Ist es nicht Ihre Aufgabe, eine solche Vision in der Öffentlichkeit zu vermitteln?

Für mich ist das Koalitionsabkommen unser gemeinsames Projekt: Wir setzten auf massiven Infrastrukturausbau, haben den Mindestlohn bereits erhöht sowie einen zusätzlichen Urlaubstag eingeführt, und vieles wird noch kommen. Das Abkommen sollte Vision genug sein, und wir haben ja noch vier Jahre zur Umsetzung.

Aber mit Verlaub, Sie sind der Staatsminister – Sie müssen doch irgendwie eine Richtung vorgeben?

Das mache ich jeden Freitag im Regierungsrat.

Hinter verschlossenen Türen, aber doch nicht in der Öffentlichkeit!

Wenn ich eine Plattform habe, dann rede ich auch. Wie jetzt mit Ihnen. Aber alles zu seiner Zeit.

Jemand, der amtsmüde zu sein scheint, ist Etienne Schneider. Stört es Sie nicht, dass der Vizepremier sowie Wirtschafts- und Gesundheitsminister offen mit seinem Rücktritt kokettiert?

Ich habe diese Information auch in Ihrer Zeitung gelesen und mit Etienne Schneider darüber gesprochen. Es ist seine Entscheidung, die ich zu respektieren habe.

Sie müssen doch schon länger über seinen Abgang im Klaren gewesen sein?

Er hat mir lediglich zu Beginn der Koalition gesagt, dass er sein Mandat nicht zu Ende führen wird. Aber das Timing des Absprungs kannte ich damals nicht.

Kennen Sie das Timing jetzt?

Dazu will ich nichts sagen. Es ist die persönliche Angelegenheit von Etienne Schneider, Sie müssen ihn fragen.

Aber es ist doch auch eine Regierungsangelegenheit, Sie müssen doch Planungssicherheit haben?

Wer glaubt, Etienne Schneider würde nun die Zügel schleifen lassen, der irrt – und zwar gewaltig. Ein Etienne Schneider wird nie zu einer Lame Duck, wie manche behaupten. Er ist ein Macher und steht nicht auf dem Abstellgleis. Er kennt seine Dossiers, trifft Entscheidungen und arbeitet am Maximum. Und er hat versichert, in den nächsten Tagen oder Wochen, mir persönlich seine genauen Zukunftspläne mitzuteilen.

Bedauern Sie seinen Abgang nicht?

Doch.

Immerhin haben Sie ihm das Amt des Premierministers zu verdanken?

Ja, ohne sein Koalitionsangebot säßen wir möglicherweise heute nicht hier. Ich bereue es aber vor allem, weil Etienne Schneider nicht nur ein außerordentlicher Politiker ist, sondern mir auch stets ein starker Partner und Freund war. Man kann sich auf ihn verlassen, er hat einen wunderbaren Humor, ist ein Bonvivant und schlichtweg jemand, den ich sehr schätze. Und für mich ist in der Politik die persönliche Chemie, das Menschliche, genauso wichtig wie das Politische. Ohne Vertrauen kann ich nicht in eine Koalition gehen.

Nun sind Sie bald der letzte im Bunde des einstigen Koalitionstrios Bettel-Schneider-Braz?

Sie wollen sagen, ich sei le dernier survivant?

So würde ich es nicht formulieren, aber in der Tat: Sie sind bald allein.

Félix Braz ist mir genauso ein Freund wie Etienne Schneider. Sein tragisches Schicksal ist ein Schock für uns alle und hat mich emotional sehr mitgenommen. Es ist ein Wunder, dass es ihm heute wieder besser geht. Er lacht wieder, das ist fantastisch. Die Grünen haben damals entschieden, die Regierung umzubauen. Ich habe das akzeptiert, aber Félix fehlt mir sehr.

Kam Ihnen die Entscheidung der Grünen zu schnell?

Ein Ministerium muss funktionieren. Auch wenn es Félix heute besser geht, ist er aktuell nicht in der Lage, das Justizministerium zu leiten. Ich habe deshalb die Entscheidung der Grünen geteilt, auch wenn es menschlich nicht einfach war.

Um zurück zur Ausgangsfrage zu kommen: Ohne die Achse Braz-Schneider, verändert sich doch auch das politische Klima in der Koalition?

Das sehe ich nicht so. Seit meiner Zeit als Bürgermeister der Stadt Luxemburg pflege ich ein enges Vertrauensverhältnis zu François Bausch, dem neuen grünen Vizepremier. Auch mit den anderen Regierungsmitgliedern habe ich ein äußerst kollegiales, ja geradezu freundschaftliches Verhältnis.

Auch mit LSAP-Arbeitsminister Dan Kersch?

Natürlich. Politisch gesehen, sind wir nicht auf einer Wellenlänge. Dan Kersch würde Ihre Zeitung zerreißen, wenn er lesen würde, dass wir uns politisch nahe stehen. Aber das müssen wir auch nicht, wir haben ja schließlich ein Abkommen, einen Koalitionsvertrag. Doch ich schätze die Arbeitsmoral und Aufrichtigkeit von Dan Kersch – er teilt mir stets mit, was ihm auf dem Herzen liegt.

Und der zukünftige Vizepremier vergreift sich dann schon mal im Ton?

Seine Ausdruckssprache ist gelegentlich etwas roh und brutal, das stimmt. Aber das gehört in politischen Gesprächen dazu. Dan Kersch steht jedoch zu seinem Wort und nur das zählt am Ende. Ob er in Zukunft Vizepremier sein wird, ist Sache der Sozialisten.

Trotzdem hieß es bereits im Sommer aus Fraktionskreisen, dass es um die Stimmung in der Koalition nicht gut bestellt sei. Es herrsche ein große Lethargie – eine Koalitionsmüdigkeit.

Das ist falsch. Ich sehe momentan keinen Grund, Trübsal zu blasen. Diese Koalition läuft bestens.

Und warum haben Sie sich dann nicht sofort hinter Carole Dieschbourg gestellt, als die Umweltministerin in der Affäre Traversini in die Kritik geriet?

Ich will mir den Vorwurf nicht gefallen lassen, ich hätte mich nicht hinter Carole Dieschbourg gestellt. Wir haben damals täglich telefoniert und ich habe versucht, sie beratend zu unterstützen. Aber es handelt sich hier um ein Strafverfahren, und ich halte es nicht für opportun, meine Meinung kundzutun in einer Angelegenheit, die vor der Justiz steht. Die Politik hat sich hier nicht einzumischen.

Wir vermissen bis heute, dass Sie Ministerin Carole Dieschbourg Ihr vollstes Vertrauen aussprechen.

Meines Erachtens fällt dieser Satz meistens dann, wenn eine Situation nicht mehr zu retten ist, und der Minister kurze Zeit später abtreten muss. Das ist hier überhaupt nicht der Fall.

Aber Sie bezeichnen sich doch auch als „Kapitän“ der Regierung, dann müssen Sie sich doch vor Ihre Mannschaft stellen?

Wenn Sie darauf bestehen: Natürlich genießt Carole Dieschbourg mein vollstes Vertrauen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine böse Absicht in der Angelegenheit um die Gartenhausaffäre gab und sie sich etwas vorzuwerfen hat. Aber jetzt spiele ich schon Untersuchungsrichter und lehne mich zu weit aus dem Fenster.

Manche sagen, Sie verfügen über genug politisches Gespür, um sich nicht an dieser Affäre die Finger zu verbrennen?

Das ist Quatsch. Nochmal: Ich habe sie unterstützt und die Ministerin auch damals ins Parlament begleitet, um Solidarität zu zeigen. Aber als früherer Anwalt stehe ich zum Prinzip der Gewaltentrennung und kommentiere keine Angelegenheiten der Justiz.

Als Ihre Parteipräsidentin Corinne Cahen wegen eines möglichen Interessenkonflikts in die Kritik geriet, haben Sie nicht so zögerlich reagiert…

Also bitte! Lassen wir die Kirche doch im Dorf. Nur wegen dieser läppischen Mail, die versehentlich vom falschen Absender verschickt worden ist? Das hätte jedem geschehen können – auch mir.

Davon abgesehen, dass nicht jeder eine Regierungsmail hat, geht es doch weniger, um die Absender-
adresse, sondern vielmehr um den Inhalt der Mail. Darf eine Ministerin sich derart bei einem Verband ins Zeug legen für eigene unternehmerische Interessen?

Das will ich nicht kommentieren. Die Sache ist jetzt Angelegenheit des Ethikrats, ich will dem Gutachten nicht vorgreifen.

Wir stellen fest, dass Ihre Redefreiheit begrenzt ist: Mal steht die Gewaltentrennung im Weg, mal der Ethikrat, mal wollen sie den Ministerkollegen nicht die Show stehlen oder etwas aus dem Abkommen vorwegnehmen. Worüber dürfen Sie eigentlich noch reden?

Über den ganzen Rest. Ich habe natürlich zu all diesen Themen meine Meinung, aber als Premierminister habe ich ein Devoir de retenue.

Sie sind jedoch nicht nur Premier- sondern auch Medienminister. Und man kann wohl behaupten, dass Sie schon gemütlichere Tage hatten: die Zukunft von RTL ist unklar, der Film Fund kommt aus den negativen Schlagzeilen nicht heraus und auch beim Radio 100,7 tobt ein Konflikt. Wie soll es etwa mit dem Radio 100,7 weitergehen?

Der Sender liegt mir am Herzen, deshalb habe ich auch das Budget erhöht. Aber ich wünsche mir jetzt endlich Ruhe bei Radio 100,7. Und wie wir im Koalitionsabkommen angekündigt habe, verschließen wir uns keiner Idee und wollen die Gouvernance des Radios reformieren.

Betrachten Sie es nicht als persönliches Scheitern, dass Ihre Vertrauensperson Laurent Loschetter das Boot vergangene Woche verlassen hat?

Nein. Als Laurent Loschetter damals zum Präsident von Radio 100,7 ernannt wurde, ging es darum, Probleme in der Buchführung und im Arbeitsrecht anzugehen. Ich will jetzt nicht auf Details eingehen, aber es gab bei diesem Sender arbeitsrechtliche Situationen, die vollkommen unhaltbar waren. Dieses Problem konnte Laurent Loschetter beheben, und er war nun der Überzeugung, dass seine Mission erledigt sei. Das muss ich akzeptieren. Er ist vergangene Woche durch die frühere Politikerin und Historikerin Renée Wagener ersetzt worden. Jetzt muss der Verwaltungsrat über die Präsidentschaft entscheiden.

Aber es gibt doch gewaltige Gräben zwischen Direktion und Redaktion, Vorwürfe von Zensur stehen im Raum sowie Eingriffe in die Unabhängigkeit der Redaktion.

Ich kann das alles nicht nachvollziehen. Niemand will Radio 100,7 schaden, niemand will sich einmischen, Berichte beeinflussen oder eine Redaktion in der Ausübung ihrer journalistischen Pflichten beschränken. Und auch mein Vorschlag, Renée
Wagener zu nominieren, zeigt doch, dass ich nicht nur Personen berufe, die mir oder der liberale Partei nahestehen. Nochmal: Ich wünsche mir Ruhe und ich verschließe mich auch überhaupt keiner Diskussion über zukünftige Funktionsmodelle des Radios.

Unseren Informationen zufolge soll jedoch im Staatsministerium bereits über eine mögliche Fusion von RTL Télé und Radio 100,7 nachgedacht worden sein, um einen kompletten öffentlich-rechtlichen Sender zu schaffen.

Dann wissen Sie mehr als ich. Wir haben im Koalitionsabkommen lediglich festgehalten, dass wir eine Analyse über ein mögliches öffentlich-rechtliches Fernsehen in Luxemburg machen und auch darüber im Parlament debattieren wollen. Aber dadurch soll RTL doch nicht verschwinden.

Das Problem liegt doch darin, dass der Bertelsmann-Konzern sich zunehmend aus Luxemburg zurückzieht und das Defizit von RTL Télé nicht mehr tragen will.

Bertelsmann will sich reorganisieren, das stimmt. Das ist für ein privates Unternehmen, das global denkt, auch nicht ungewöhnlich. Aber sie wollen das Geschäft nicht vollkommen aus Luxemburg abziehen.

Sie können also ausschließen, dass es eine Fusion geben wird?

Nein, das sage ich nicht. Aber bis jetzt hat noch niemand mit mir darüber gesprochen. Und ein Xavier Bettel trifft keine Entscheidungen aus dem Bauch heraus, ohne vorher alle Argumente zu kennen.

Sie wünschen sich Ruhe bei 100,7, Ruhe beim Film Fund, und Sie hätten gerne, dass sich generell die öffentlichen Debatten beruhigen. Regiert es sich einfach leichter, wenn alle nur dösen?

Ich glaube, dass Luxemburg sich durch sein stabiles Konsensklima von vielen anderen Ländern unterscheidet. Streiks und Demonstrationen sind eher selten – wir haben eine ausgeprägte Konsenskultur jenseits von unruhigen Bewegungen. Und ich bin der Überzeugung, dass wir die Luxemburger Success Story nur weiter führen können, wenn wir uns in Ruhe mit Themen auseinandersetzen und nicht hyperventilieren.

Tatsächlich ist Ihrer Regierung das Kunststück gelungen, innerhalb weniger Jahre die Staatseinnahmen auf über 20 Milliarden Euro anwachsen zu lassen. Wenn jedoch gleichzeitig das Armutsrisiko der Bevölkerung auf über 18 Prozent steigt, macht die Politik dann nicht etwas grundlegend falsch?

Die Ungleichheiten können wir nicht leugnen. Ich wünschte, es wäre anders. Aber wir haben doch eine Reihe Sozialmaßnahmen unternommen, um gegenzusteuern.

Aber trotzdem geht die Schere weiter auseinander.

Ja, und das liegt an der Wohnungssituation. Hier liegt das zentrale Probleme, an dem wir alle selbst eine Schuld tragen, indem wir jahrelang die Preissteigerung geduldet und gar befördert haben. Wenn wir die Schere schließen oder auch nur zusammenführen wollen, müssen wir die Preise am Wohnungsmarkt in den Griff bekommen.

Worauf warten Sie?

Der Staat kann das Problem nicht alleine lösen. Wir brauchen die Gemeinden. Wir müssten deutlich höher und dichter bauen, die Bauphilosophie grundlegend verändern.

Sie können doch jetzt nicht die Verantwortung auf die Gemeinden abschieben.

Nein. Ich sage nur, dass wir alle an einem Strang ziehen müssen, der Pacte Logement 2.0 geht beispielsweise in die richtige Richtung. Doch ich sage Ihnen noch etwas: Ich bin zwar ein liberaler Politiker, aber ich bin der Überzeugung, dass wir eine Spekulationssteuer einführen müssten. Leerstehende Wohnungen müssen progressiv besteuert werden, so dass es den Besitzern schmerzt.

Und ungenutztes Bauland?

Nein. Das geht mir persönlich zu weit. Die Eigentümer haben möglicherweise Pläne für die Zeit in ihrer Rente, die der Staat ihnen nicht verbauen sollte. Aber ich verschließe mich auch hier keiner Diskussion, warne aber davor, Eigentümer zu stigmatisieren.

Und wenn am Ende der Legislaturperiode im Jahr 2023 das Armutsrisiko in Luxemburg weiter bei 18 Prozent liegt oder gar gestiegen ist, müssen Sie sich dann nicht den Vorwurf des politischen Versagens gefallen lassen?

Der politische Einfluss des Premierministers zur Lösung des Immobilienproblems ist doch eher gering. Wir können durch Steuermaßnahmen regulierend einwirken oder auch durch die öffentliche Hand das Angebot steigern. Natürlich will ich die Armut bekämpfen. Aber es ist alles nicht so einfach.

Pol Schock
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