Am ersten Dezember werden in Rumänien Parlamentswahlen stattfinden. In Bukarest, Oradea, Sibiu und den rumänischen Dörfern hängen bereits Plakate mit den Kandidaten in den Straßen. Auf den Märkten findet man auch Ceausescu-Tassen, -Magnete und -Pins, auf denen er wahlweise mit seiner Frau Elena abgebildet ist. Vermissen die Rumänen den „ersten Arbeiter des Landes“, wie er sich selbst nannte? „Da“, antworten einige. Unter Nicolae Ceausescu habe jeder eine Wohnung gehabt und eine Arbeit gefunden. „Heute ist die Jugend faul geworden, das würde Ceausescu ändern“, klagen grauhaarige Männer. Die Kommunismus-Romantik ist ein Randphänomen, allerdings sichtbar genug, um nicht an ihr vorbeizukommen.
Mit der Deutung der Ceausescu-Ära hat sich der gebürtige Luxemburger Daniel Plier auseinandergesetzt, als seine Frau Mariana Mihu-Plier bei dem Stück Je suis une vieille coco Regie führte. „In dem Werk, das auf dem Buch von Dan Lungu beruht, erinnert sich die Protagonistin Emilia voller Nostalgie an ihre Jugend und die Kollegialität am Arbeitsplatz“, erklärt Plier. Dass man während der Diktatur für alles anstehen musste – von Heizöl und Toilettenpapier bis hin zu Brot und Fernsehgeräten – wird von Emilias heiteren Rückblicken verdrängt. Der kommunistische Diktator Nicolae Ceausescu plante in seiner Megalomanie das größte Parlamentsgebäude der Welt, eine Gebirgsstraße (die letztlich nur sechs Monate im Jahr befahrbar ist) und etablierte eine gnadenlose Geheimpolizei. Emilia vergisst diese Aspekte und ärgert sich Anfang des 21. Jahrhunderts über ihre „miserable Rente“. Neureiche kaufen Premium-Würste und Steaks bei Kaufland und Delhaize, während sie selbst kein Geld für die neuen Konsumgüter hat. Früher waren zumindest alle gleich arm.
Der Schauspieler und Regisseur Plier bezeichnet sich als „Überbleibsel, eine Art Vestige, des Kulturjahres“. Er sitzt in einem weißen Hemd, kahlgeschoren und mit konzentriertem Blick in einem Kaffeehaus in der Innenstadt von Sibiu und erzählt während einer Probepause, warum Transsylvanien seine neue Heimat wurde. Als Sibiu (zu Deutsch Hermannstadt) 2007 zusammen mit Luxemburg Kulturhauptstadt war, brachte der in Bukarest geborene Regisseur Silviu Purcărete Die Metamorphosen von Ovid nach Neimënster. Das Ensemble bestand aus luxemburgischen und rumänischen Schauspielern, und so lernte Plier Mariana Mihu kennen. Für Plier folgte ein Hin und Her zwischen Sibiu und Luxemburg, bis er 2010 schließlich eine Festanstellung am Nationaltheater Radu Stanca annehmen konnte. Seine Jugend verbrachte Plier im Ösling: Bis zum vierten Schuljahr wuchs er in Holtz (Gemeinde Martelingen) auf, dann zog er mit seinen Eltern nach Schieren um. Im Diekircher Lyzeum sammelte er erste Theatererfahrungen unter der Leitung des Französischlehrers Hubert Bauler und des Englischlehrers Jos Eilenbecker. Dass ihn das Theaterspiel sein Leben lang begleiten würde, wusste er nach einem einjährigen Schüleraustausch in Kalifornien, „wo wir täglich eine Stunde geprobt haben“. In Straßburg begann er ein Studium der modernen Literaturwissenschaft und war nebenbei am Theater tätig. Seine erste große Rolle war die des englischen Lords Warwick in L’Alouette von Jean Anouilh. Anschließend verfeinerte er seine Schauspielkunst in Paris bei dem in Namur geborenen Dramaturgen, Schauspieler und Begründer des Theaterfestivals „Francofolies“ Pierre Debauche.
Heute blickt Daniel Plier auf 14 Jahre in Rumänien zurück und betont viele optimistisch stimmende Entwicklungen: „Man trifft auf eine gebildete Jugend, die mit ihren kreativen Ideen zuversichtlich umgeht. Die Zivilgesellschaft hat sich professionalisiert und kritisiert öffentlichkeitswirksam Missstände.“ In Constanța, Alba Iulia und anderen Städten werden alte Gebäude saniert; zudem wurden die Verkehrsrouten ausgebaut, heute ist Transsylvanien über die Autobahn mit Budapest und Westeuropa verbunden, was den Transport von Gütern erleichtert. Und in den Innenstädten entstanden erste Radwege. Darüber hinaus seien „manche Bürgermeister und Bürgermeisterinnen geschickt darin, EU-Fördergelder zu akquirieren und diese für das Gemeinwohl einzusetzen“. Wachsende Universitätsstädte oder idyllisch am Fuße eines Berges gelegene Städte kämpfen allerdings zunehmend mit hohen Wohnpreisen. Überhaupt belastet die Inflation das osteuropäische Land; für Bananen, Joghurts, Bier, Duschseife und andere übliche Haushaltswaren zahlt man fast den gleichen Preis wie in Westeuropa. Er schätzt die mediterrane, freundliche Art der Rumänen. Nur stört ihn der Reflex mancher Leute, sich in Warteschlangen vorzudrängeln. Er verstehe, dass Rumänen wegen der Ceausescu-Ära „schlangegeschädigt“ sind, als Westeuropäer empfinde man dies aber zunächst als rücksichtslos.
In Bukarest trifft man auf Menschen, die meinen, die südrumänische Metropole sei das neue Berlin: In der Hauptstadt vereine sich alles, was sich vereinen könne; Weitsicht und Chaos, barocke Architektur und kommunistische Plattenbauten, IT-Start-ups und eine vibrierende Museumslandschaft, hippe Kaffee-Bars und Restaurants mit traditionellen Maisbreigerichten. Minuspunkte verbucht Rumänien weiterhin in punkto Korruption. Der ehemaliger Bürgermeister von Sibiu, Klaus Ioannis, war angetreten, um für mehr Transparenz zu sorgen und die Unabhängigkeit der Justiz voranzubringen. Mit diesem Versprechen ist der Physiklehrer 2014 und 2019 zum Präsidenten gewählt worden. Doch die Rumänen sind von ihm enttäuscht, seine Umfragewerte sind im freien Fall. Manche Wahlberechtigte munkeln: „Entweder hat die Macht ihn verändert oder die alten Seilschaften des Geheimdienstes halten ihn klein.“
Im Juli 2017 reiste Präsident Klaus Iohannis in seine Heimatstadt, um mit Premier Xavier Bettel (DP) das zehnjährige Jubiläum des gemeinsam veranstalteten Kulturjahres zu feiern. Bei diesem Anlass wurde Daniel Plier zum ersten luxemburgischen Honorarkonsul in Sibiu ernannt. Die Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien schrieb, Plier sei „die Personifikation der Kontinuität der Kulturhauptstadt“. Rumänische Medien waren überrascht über seine Ernennung: Ein Kulturschaffender in diesem Amt? Honorarkonsuln sind meist Anwälte oder Unternehmer. Für die Chefredakteurin der Hermannstädter Zeitung, Beatrice Ungar, war er die richtige Wahl: Plier sei ein Arbeitstier, gut vernetzt und sattelfest in Rumänisch, Deutsch und Französisch. Der Luxemburger selbst versteht sich in dieser neuen Rolle als Kulturvermittler, denn der Austausch zwischen Sibiu und Luxemburg betrifft in erster Linie Kulturprojekte. Im vergangenen Juni lud er die in Rumänien geborene und in Luxemburg lebende Schauspielerin und Schriftstellerin Larisa Faber mit ihrem Stück Stark Bollock Naked nach Sibiu ein.
Luxemburg und Rumänien pflegen jedoch auch rege wirtschaftliche Beziehungen. Das Großherzogtum exportierte 2022 Waren im Gesamtwert von über 550 Millionen Euro nach Rumänien und importierte im Gegenzug Güter von ähnlich hohem Wert. Besonders ins Gewicht fällt die Fondsindustrie, die Direktinvestitionen in Höhe von 5,97 Milliarden Euro in 1 140 rumänische Unternehmen tätigte. Laut Außenministerium leben derzeit 40 Luxemburger in Rumänien und 6 828 Rumänen in Luxemburg. Diese Zahl erfasst zuvorderst hochqualifizierte Rumänen, da Saisonarbeiter in diese Statistik nicht einfließen.
Neben Theaterstücken spielte der 56-Jährige ebenfalls in Filmen mit, darunter ein Thriller mit Sophie Marceau und Monica Bellucci sowie ein rumänischer Horrorfilm, der beim Publikum floppte und mit dem Schauerspruch „In Transsilvanien gibt es etwas Schrecklicheres als Vampire“ beworben wurde. Seine bisher bedeutendste Leinwandrolle war die des König Ferdinand in Queen Marie of Romania, der 2019 in die Kinos kam. Er ist erst auf den dritten oder vierten Blick im Film erkennbar: Durch seine staatsmännische Uniform, seinen Vollbart und den Seitenscheitel nimmt sein Kopf eine ganz andere Form an. Von den Rumänen wurde Ferdinand „der Treue“ genannt, weil der in Württemberg geborene Hohenzollern-Adlige seiner Wahlheimat die Loyalität schwor und 1916 gegen sein Geburtsland, also Deutschland, in den Krieg zog. Ferdinand war von 1914 bis zu seinem Tod 1927 König von Rumänien. Nach seinem Jurastudium in Deutschland lebte er ab 1889 dauerhaft in Rumänien, das damals aus der Provinz Walachei, Teilen Bessarabiens und der Provinz Dobrudscha bestand. Daniel Plier hat sich seinerseits 2010 von einem in Luxemburg und Frankreich tätigen Schauspieler zu einem rumänisch- und deutschsprachigen Künstler gewandelt. Eine Transformation, die ihren Ursprung in Ovids Metamorphosen hat, jenem Theaterstück, das den Luxemburger mit der Rumänin Mariana Mihu zusammenbrachte.
Neben klassischen Stücken spielt Daniel Plier regelmäßig in postmodernen Werken mit, wie Einige Nachrichten an das All. In dem Stück von Wolfram Lotz werden Leerläufe in der Dramaturgie als Stilmittel eingesetzt, ebenso wie Fußnoten, die dem Bühnengeschehen weitere Ebenen hinzufügen. Eben .jene Metakommentare inkarnierte Plier in seiner Rolle als „dicke Frau“. Diese berichtet, wie sie in einer Talkshow versucht hat dem johlenden Publikum zu vermitteln, wie tröstlich es für sie war, sich als Rosenstrauch zu fühlen und in Verbindung mit der Erde zu stehen. Plier ist ein sich Wandelnder. Weil er jedoch beim Sprechen manchmal einen Gang höher schaltet, assoziativ spricht, und Grimassen einschiebt, fragt man sich, ob er sich in Komödien am meisten zu Hause fühlt.
Der mittlerweile vor allem in deutschen Stücken mitspielende Plier bezeichnet sich als frankophil. „Und wir übersehen häufig, wie stark rumänische Autoren und Künstler, die französische Kultur geprägt haben.“ Plier nennt den Autor Eugène Ionescu, sein Rhinoceros war für viele Premièreschüler Pflichtlektüre, den Maler und Kunsttheoretiker Marcel Janco, den Dadaismus-Mitbegründer Tristan Tzara, den Bildhauer Constantin Brâncuși, den Autor und Religionswissenschaftler Mircea Eliade und den Philosophen Emil Cioran. Besonders inspirierend findet er die Werke des rumänischen Philosophen und Poeten Lucian Blaga. „In dem Werk Der mioritische Raum zeichnet er in lebendigen Bildern ein Portrait der rumänischen Volksseele, das auch heute noch aufschlussreich ist“, meint Plier. Blaga hat eine eigene mystische Metaphysik entwickelt und geht davon aus, dass das Jenseits durch Mysterien und Mythen greifbar sei.
In einer Hinsicht ähnelt das transsilvanische Sibiu Luxemburg-Stadt: Die 135 000-Einwohnern-Stadt hat einen multikulturellen und mehrsprachigen Charakter. Die Bewohner sprechen Ungarisch, Rumänisch und Deutsch als Muttersprache. Aus diesem Grund werden bei allen Stücken des Radu Stanca Theaters rumänische Übersetzungen eingeblendet. Da das Siebenbürgisch-Sächsische starke Ähnlichkeiten mit dem Moselfränkischen aufweist, kommt es gelegentlich vor, dass sich Plier mit Siebenbürger Sachsen auf Luxemburgisch unterhält.