Vinyl

Mit 232 Rentieren auf Reisen

d'Lëtzebuerger Land du 04.06.2021

Kappkino lädt abermals zum Träumen ein. Raus aus der digitalen Überflutung, rein in sonnendurchflutete Welten! Um mit radio sunshine auf Reisen zu gehen, knippst man am Besten das Licht aus, legt die Schallplatte auf und lässt die Assoziationsflut auf sich einstürzen: 22 Minuten – zehn Stücke, die vom Klang und der Melodie unterschiedlicher kaum sein könnten und eine Gedanken- und Gefühlsflut in Gang setzen. Es beginnt feierlich mit 232 Reindeers; unter die dominanten Akkordeontöne legen sich Bässe. Nach dem Gute-Laune-Auftakt wird es unheimlich und immer schräger: vom Schnaufen einer Lokomotive über Klezmer-Klänge bis hin zu Klaviertönen à la Yann Tiersen meint man hier alle möglichen Klangfarben zu erkennen.

Die Geschichte, die Claire Thill, Focuna-Stipendiatin, eigens für Kappkino schrieb, ist ein Roadmovie über eine Frau, die zum Haus ihres verstorbenen Vaters fährt und im Auto Radio hört. Sie ereilt die Nachricht von Rentieren, die durch einen Blitz getötet wurden ...

Doch eigentlich findet das Kappkino vor allem im Kopf der Zuhörerin/des Zuhörers selbst statt. Er oder sie kreiert sich – abseits der täglichen digitalen Flut, eine eigene Show, so die Idee. Seit Tanja Frank 2017 die Open Screen asbl gegründet hat, bringt diese eine Reihe von Hörstücken für Erwachsene heraus. Im selben Jahr feierte das Kappkino Premiere. Die erste Auflage, Kappkino 1, Wou ginn Elteren Nuets hin, wurde 2017 in Partnerschaft mit Opderschmelz und dem CNA produziert und in verschiedenen Kulturhäusern im Land präsentiert. 2018 wurde die Vinyl aufgenommen, 2019 das erste Stipendium für das Kappkino an Claire Thill vergeben, und die Produktion begann ... Seit Januar 2020 verstärkt die engagierte Kulturmanagerin Vessela Vencheva das Open-Screen-Team (www.openscreen.lu).

Radio Sunshine mit Núria Bonet heißt die zweite Produktion, die gerade als Platte im urig-kultigen Outfit erschienen ist: Ein Hirschgeweih hängt an einer braunen Blumentapete, die Wanduhr zeigt fünf vor zwölf. Auf einem Schreibtisch steht ein Drehscheibentelefon wie aus einer anderen Zeit. Ein aufgeschlagenes Telefonbuch, ein Rechenschieber mit Papierrolle ...

Mit der Bezeichnung des Genres wollen sich die Macherinnen von Kappkino nicht festlegen. „Musek, kee Lauschtersteck“ steht auf der Schallplatte... Was ist es dann? Ein Charakteristikum von Kappkino ist, dass das Publikum jedes der Stücke in einer besonderen Umgebung erlebt – in einem dunklen Raum, ohne visuelle Reize. Dies hilft den Zuhörenden, in die Geschichte einzutauchen und sich zugleich von der dauernden digitalen Vernetzung zu lösen. Zudem betonen die Macherinnen, dass das Kappkino keineswegs eine luxemburgische Geschichte ist. Obwohl Kappkino wie Kachkéis klingt und mit Misch Feinen und Nataša Grujović zwei luxemburgische Klangkünstler bei der Produktion mit im Boot sind, setzen die Köpfe hinter dem Projekt bewusst auf den multikulturellen Kontext Luxemburgs. Sie sind der Überzeugung, dass jede Sprache und jedes Publikum in Luxemburg wichtig seien und es dafür einen breiten Resonanzraum gebe.

Trotzdem bleibt das Kappkino, mehr noch als Hörspiele herkömmlicher Art, eine individuelle Erfahrung, da das Konzept gezielt auf die eigenen Interpretationen jedes/jeder Zuhörenden setzt. In Luxemburg fällt die Audioproduktion auch deshalb aus dem Rahmen, weil sie sich nicht nur an Kinder richtet.

Anvisiert werden „Menschen mit einem offenen Geist, die bereit sind, Konventionen über Bord zu werfen und die Belsch Plaasch zu verlassen für ein neues, unerwartetes Ziel“, meint die Gründerin Tanja Frank. Das offen angelegte Projekt einschließlich der verschiedenen daran beteiligten Sprachen gibt Kappkino mehr Chancen, ein breites Publikum außerhalb von Luxemburg zu erreichen, dass die Diversität widerspiegelt. Für die dritte Auflage wurde so vor Kurzem Jana Montorio akquiriert, die das nächste Stück auf Tschechisch und Französisch schreiben wird.

Die Grundidee für Kappkino 2 war es, das Format klanglich zu erforschen und einen Autorenpool rund um das Hörspielformat aufzubauen. So wurde mit Núria Bonet eine Musikerin (Klarinette, Piano, Vocals) eingebunden, die hierfür eigens die Musik komponiert und die Klänge kreiert hat. War Kappkino 1 als Produktion recht geradlinig, so war es nun das Ziel, „den Klängen als erzählerischen Element mehr Raum zu geben“, so Tanja Frank.

Die weitere Ausrichtung des Projekts bleibt offen. Man wolle bei Open Screen einen sicheren Raum für Künstler/innen schaffen, die neue Wege und Ideen ausprobieren wollen. Die Musik-Vinyl sei nie geplant gewesen, aber in Zeiten der Pandemie erfinden die Künstlerinnen sich und ihre Projekte neu. Mit einem Verweis auf die Haussupermarktkette der Luxemburger, die während der Corona-Pandemie verkündet hat „Léif Clienten, d’Situatioun ass wei se ass“, habe das Team rund um Open Screen „alles, was übrig ist“ genommen und daraus seine eigene goldene Schallplatte gemacht.

Radio Sunshine habe ihnen erlaubt, neue unerwartete Türen zu öffnen, sagen die Macherinnen rückblickend. Es brauche nur eine Brise Neugierde und Offenheit, sich auf das Projekt einzulassen. Wer dazu bereit ist, kann sein Smartphone ausschalten und sich mit den 232 Rentieren auf eine akustische Reise begeben.

Weitere Informationen zum Kappkino auf der Webseite: kappkino.lu

Emma Appel
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