Jérôme Jaminet schreibt Kurzgeschichten, Gedichte, Aphorismen und Essays. Seine Texte sind im Lëtzebuerger Journal, in Nos cahiers, im Trierer Literaturmagazin Literamus sowie in der 2003 erschienenen Sammlung Gedankenstille erschienen (Verlag Traugott Bautz). Freier Redakteur und Literaturkritiker, u.a. für SWR2, MDR und Spiegel Online, unterrichtet er seit 2013 Deutsch am Lycée Michel Lucius. 2021 findet sich unter den immer wieder erfreulichen, cleveren Publikationen von Capybarabooks die zweite Veröffentlichung von Jérôme Jaminet in Buchform: Ein Wort in Esels Ohr. Es ist eine Sammlung aus Notizen, Anekdoten zu Lektüren, Lesungen und Literatur – der Bachmann-Preis, die Bicherfoire oder das Zusammentreffen mit Ronja von Rönne. Daneben finden sich, wie in einem Kalendarium, Betrachtungen zu verschiedenen Daten (z.B. Allerhellegen), Jubiläen oder Geburtstagen von Autor/innen, Listen von Wortwitzen und Sammlungen von süffisanten Sprüchen. 96 Seiten kurz – und doch ein Buch, wie ein Bonmot innerhalb des Werkes noch einmal in Erinnerung ruft: „Ein Buch, das weniger als 49 Seiten umfasst, ist streng genommen kein Buch, sondern eine Broschüre.“ (S. 72)
Die einzelnen Texte in Ein Wort in Esels Ohr sind ein paar Zeilen kurz oder umfassen mehrere Seiten und sind verdientermaßen in verschiedenen Sprachen verfasst. Deutsch, Luxemburgisch und Englisch, wobei z.B. das Luxemburgische vor allem in stimmungsvollen oder persönlichen Episoden wie Reiseberichten genutzt wird. Auch sonst ist der jeweilige Rückgriff auf die Sprachen stets inhaltlich gerechtfertigt: Die Sprache bestimmt das Besprochene mit, so wenn wedlock, matrimony und marriage auf freie lautliche Assoziationen abgeklopft werden, deren Bedeutungen Nuancen zum Thema der Eheschließung einfließen lassen: „it rhymes with ceremony, good company and harmony.“ (S. 43)
An anderen Stellen wird die Etymologie bestimmter Worte untersucht, werden die Grenzen der Begriffe aufgezeigt oder Herleitungen vollführt, wie etwa die Verbindung zwischen dem französischen Rendez-Vous und dem eingedeutschten, mittlerweile veralteten „Stelldichein“ (S. 30) gezogen wird; es entstehen Wortspiele und Witze durch die klar gesetzten sprachlichen Akzente oder formelle Pointen münden oftmals in süffisanten Anspielungen auf allgemeine soziale oder kulturelle Verhältnisse. Im Text Zur Genealogie der Lebenslüge (S. 39) wird, in Worten und Tempo an die biblische Genesis angelehnt, die spannungsvolle Beziehung zwischen Gefühl und Verstand dargestellt. Andere Stücke wollen einfach nur lustig sein: Sie sind rein auf Humor bedacht, bloße Eseleien („Wer zu viel Wein trinkt, wird weinen; wer zu viel Cola-Bier trinkt, wird ...“; S. 54)
Wie sie von einer Sprache zur anderen wechseln, so springen die Texte auch fliegend von einem Thema zum nächsten. Allgemeine, philosophische Räsonnements folgen auf mutmaßliche Betrachtungen zur tagesaktuellen Zeitungslektüre, wenn z.B. Scheidungsraten und die Zahlen der Eheschließungen in Luxemburg Anlass für ein weiteres, kurzes Stück geben. Alltägliches, Banales und gemein Menschliches gehen über in situative Beschreibungen, Begegnungen wie die pointiert beschriebene Begegnung mit Autor K. nach einer Lesung: „Die Situation ist derart peinlich, dass ich das Thema wechsele. [...] Als ich K. zum ersten Mal gesehen habe, vor knapp vier Stunden, hat er noch an mir vorbei geschaut, irgendeinen Punkt an der Wand fixiert und meine ausgestreckte Hand pflichtschuldig geschüttelt, um dann wieder wie eine Wachsfigur aus Madame Tussauds vor dem Besprechungstisch zu verharren. Und nun sitzen wir hier und fragen uns ernsthaft, ob assistierte Selbstbefriedigung für den Patienten ehrverletzender ist als für die Pflegekraft. Er meint ja.“ (S. 20-21)
In diesen humorvollen Anekdoten zur Literatur und Lektüre haben die Texte meines Erachtens, neben dem alltäglich-philosophischen Wundern über die Welt, ihre Stärke; in einigen Gedichten oder seltenen, etwas verqueren Betrachtungen wie der Analyse eines „frühkindlichen“ Digital Natives ihre Schwächen (weil die Folgerung des Betrachters überraschend sprunghaft ist: „What’s next? Child cyborgs?“, S. 43); hier bleiben die Texte an der Oberfläche.
Man kann den Band durchblättern, bis der Blick an einem Schlagwort, einer Zeichnung (Esel oder Karotte), einem Titel oder einer Mise en page hängenbleibt; das Buch verleitet aber ebenso dazu, es chronologisch durchzulesen. Obwohl es keinen inhaltlichen roten Faden gibt, sind die Texte gut aufeinander abgestimmt, die Anordnung lässt einen angenehmen Lesefluss aufkommen. Wie angestoßene Dominosteine stürzen die Gedanken in eine Richtung und kurz darauf klackernd in eine andere. Mit Eselsohren und einigen unterstrichenen Sätzen – so sieht mein Buch nach der Lektüre aus. Denn wie jede Schatztruhe erscheint der Band zunächst rappelvoll, prall, bis man dann die einzelnen Stücke hervornimmt und die Geschmeide gesondert betrachtet. Nicht alles gefällt, aber für jeden Geschmack ist etwas dabei, und selbst die kleinteilige Gestaltung der einzelnen Glasperlen lassen die Hand ihres Machers, des Autors erkennen.
Was kann man (ich) als „Seitenseziererin“ einem Autoren mit auf den Weg geben, der eine rege Erwartung an Buchkritiken hat – nicht nur selbst Rezensent, hat er schließlich auch einen Essay über die Gebote der Literaturkritik verfasst (Klasse für die Masse in: Forum, 2016), der hier in einem Text „Die Leiden des (nicht mehr ganz so) jungen Kritikers“ (S. 68-70) wiederaufgegriffen wird. Wir werden nicht in die Falle tappen, mit den hier gelieferten Worten des Autors die Besprechung seines eigenen Werkes abzurunden. Denn vielmehr, als dass sie „mich verunsichern und verwandeln“ (S. 69), laden sie zum Schmunzeln ein, erschaffen eingängliche, klare Miniaturmomente, die den Leser/innen durch die Präzision der heraufbeschworenen Bilder und die treffsichere Sprache in Erinnerung bleiben wird. Worte mit Eselsohren, Worte für Lange Weile.