Russland besetzt die Krim

„Sieg über die Vernunft“

d'Lëtzebuerger Land vom 07.03.2014

Jede Kriegskunst beruht auf Täuschung, sagt Sun Tzu in seinem 2 500 Jahre alten Klassiker „Die Kunst des Krieges“. Was Clausewitz für den Westen ist Sun Tzu, derunter anderen Mao stark beeinflusst hat, für den Osten. Folgt man Sun Tzu, dann hat Wladimir Putin ein Meisterstück abgelegt. Der russische Präsident hat die Krim erobert, ohne dass ein Schuss gefallen ist. Er hat seine Strohmänner (Axionov) an die Macht gebracht und einen Hilferuf des gestürzten Präsidenten der Ukraine präsentiert. Er hat alle feindlichen Armeeeinheiten auf der Krim blockiert oder entwaffnet und er geht einen legalistischen Weg (Referendum), um sein Territorium abzusichern. Putin hat auf seiner Pressekonferenz zudem klargemacht, dass er, sollte er das als vorteilhaft ansehen, jederzeit in den Osten der Ukraine einmarschieren würde. Militärisch und propagandistisch hat sich der russische Präsident bestens vorbereitet und abgesichert. Man darf davon ausgehen, dass Russland erstens seine Aktionen schon seit geraumer Zeit durchgeplant hat und zweitens noch einige Trumpfkarten in der Hinterhand hat. Im Moment spielt die Zeit zudem für Putin. Jeder Tag, den die Krim in russischem Besitz ist, erhöht den russischen Durchgriff und verfestigt die Verhältnisse für die Zukunft.

Den Gegner zu kennen, genau zu kennen, ist eine der Kernforderungen Sun Tzus. Für ebenso wichtig hält er, dass ein General sich selbst kennt. Hier liegen Ansatzpunkte, wie Europa weiter mit der Krise umgehen kann. Offensichtlich ist, dass Europa und die USA ihren Gegner nicht gekannt haben. Immer noch überrascht und fast ungläubig verfolgen sie, mit welcher Entschlossenheit Putin Fakten schafft. Die erste Aufgabe des Westens lautet also, zu erkennen wie Russland tickt. Hier gibt es, unter dem Druck der Ereignisse, rasante Fortschritte. Am Donnerstag (nach Redaktionsschluss) hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs Gelegenheit, mit ihren Beschlüssen zu zeigen, dass sie etwas gelernt haben.

Ein Krieg in der Ostukraine ist immer noch jederzeit möglich. Russland braucht die ukrainische Schwerindustrie nicht als solche, die russische Wirtschaft ist aber so mit diesem Wirtschaftssektor verbunden, dass eine wie immer geartete Kontrolle dieser Gebiete die wirtschaftlichen Kosten für Russland erheblich kleiner halten würden. Das durchzusetzen wird für Russland schwieriger als gedacht, da selbst eine Mehrheit der russischsprachigen Ostukrainer keine russische Invasion, sondern ganz klar die ukrainische Unabhängigkeit wünscht. Hier ist Putin in einem echten Dilemma, er muss die Wirtschaftsmagnaten bei Laune halten, aber gleichzeitig darf er den Konflikt nicht noch weiter überreizen. Solange ein verstärktes militärisches Eingreifen der Russen nicht ausgeschlossen werden kann, hat auch Luxemburg, das den Vorsitz des UN-Sicherheitsrates führt, alle Hände voll zu tun. Der Vorsitz kann die Agenda beeinflussen und diese ist in einer akuten Krise oft von entscheidender Bedeutung.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn schließt schon mal jeden europäischen Militäreinsatz aus, was sich markig anhört, aber kaum Substanz hat. Der Hinweis, dass sich Luxemburg wegen seiner Wirtschaftsbeziehungen in einer delikaten Lage befände, kennzeichnet die europäische Gesamtlage. Alle müssen sich drauf einstellen, dass sich der Konflikt lange hinziehen wird, sehr lange. Russland will ja nicht nur die Krim, sondern eine latente Oberherrschaft über jede zukünftige Regierung in der Ukraine. Die wichtigste Frage lautet nun: Wie viel ist Europa bereit zu opfern, um Russland in die Schranken zu verweisen? Wirtschaftssanktionen sind nur mit den Europäern möglich, der US-Handel ist zu gering.

In Deutschland hängen nach Industrieangaben 300 000 Arbeitsplätze direkt an Russland. Zugleich ist die Wirtschaftspolitik der einzige Bereich, in dem Russland wirklich etwas zu verlieren hat. Deshalb titelte die russische Tageszeitung Wedomosti vergangenen Montag: „Krieg gegen die Wirtschaft“ und thematisierte den Sturz des Rubels, eine drohende Rezession und die Aussage anonym bleibender Topmanager, dass allein die bestehende Möglichkeit eines russischen Militäreinsatzes eine Katastrophe sei. Putins Politik sei, so die Zeitung, ein „Sieg über die Vernunft“.

Deutschland ist am engsten mit Russland wirtschaftlich verflochten. Nimmt es die Ängste der Osteuropäer ernst, und das müsste es tun, dann wird es die Hauptlast möglicher Sanktionen tragen. Die britische Regierung möchte Sanktionen, aber bitte keine, die die britisch-russischen Finanzgeschäfte stört. Dem wird man sich in Luxemburg gerne anschließen. Kommt die EU zu dieser Haltung, wird der Westen den kürzeren ziehen. Dabei hat die EU die besseren Karten, gegen ihre Wirtschaftsmacht ist Russland nur ein kleiner Staat. Sie sollte sich auch nicht von russischen Gegendrohungen Bange machen lassen. Im Gegenteil, es wird Zeit, dass sie selbst in die psychologische Kriegsführung einsteigt. Sie muss den normalen Russen klarmachen, welchen Preis sie für eine wirtschaftliche Isolierung werden zahlen müssen. Putin ist zu Hause nur so lange stark, wie die Wirtschaft läuft. Zuletzt sah es damit schon recht dürftig aus. Korruption und Rechtlosigkeit fördern nun mal keinen Fortschritt.

Global gesehen war die Krimbesetzung mehr als ein Erdbeben. Sie läutet nach 9/11 einen neuen Abschnitt des noch jungen Jahrhunderts ein. Deshalb ist es so wichtig für die EU, dieses Mal nicht zurückzuweichen. Bekommen die osteuropäischen Länder keine rückhaltlose Unterstützung innerhalb der EU, dann wissen sie, dass sie sich nach anderen Möglichkeiten umsehen müssen, um sich für den Fall zu wappnen, dass Russland auch bei ihnen seine Landsleute beschützen will. China wird die Entwicklung des Konflikts genauestens beobachten, könnte die Krimbesetzung doch zu einem Muster für die Wiedereingliederung von Taiwan werden.

Putin erweckt den Eindruck, und glaubt es vielleicht sogar selbst, er halte alle Fäden des Konflikts fest in seiner Hand. Das Gegenteil ist der Fall. Die Besetzung der Krim kann zu seinem Sturz führen. Ob es dazu kommt, das entscheidet sich mindestens so stark in Brüssel und Washington wie in Moskau.

Christoph Nick
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