Am 1. Januar wohnten 645 397 Leute im Land. Das meldete das statistische Amt Statec diese Woche.
Die Bevölkerungszahl steigt um etwa zwei Prozent jährlich. Hält diese Rate an, wohnen in fünf Jahren 700 000 Leute in Luxemburg. Vor 20 Jahren sorgte die Zahl für Hysterie. Nun lockt sie keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor.
Von der Ostgrenze zur Westgrenze Luxemburgs fährt man in einer halben Stunde. Die Firma Amazon beschäftigt weltweit doppelt so viele Arbeiterinnen und Angestellte, wie das Land Einwohner zählt. Immer wieder überkommen den Zwergstaat Zweifel am Nutzen seiner Sprache oder seiner Armee. Er leidet unter einem Minderwertigkeitskomplex. Er fühlt sich in einem Fötalstadium, als unvollständiges Land.
Seit 1839 wurden 37 Volkszählungen durchgeführt. Unentwegt müssen Demografen nachzählen, ob es das winzige Volk noch gibt. Demografie wird zur Panikwissenschaft der Demagogen. Seit dem rechten Familienpolitiker Gérard Calot misst sie die Angst, dass die Bevölkerung schmilzt, das Land ausstirbt bis zum Raum ohne Volk. Seit dem rechten Sozialpolitiker Jean-Claude Juncker misst sie die Angst, dass die Bevölkerung explodiert, das Land platzt bis zum Volk ohne Raum.
Rechte Politiker schüren Angst als Herrschaftsinstrument. Der damalige CSV-Premier Juncker hatte am 20. Juli 2001 gewarnt: Um die Renten zu finanzieren, seien immer mehr Beitragszahler nötig. Bis zu einem „700 000-Awunnerstat“. Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate! Am 7. Mai 2002 prophezeite er dem Parlament, „da si mer am Joer 2020 zu méi wéi 500 000, [...] am Joer 2050 zu méi wéi 700 000. Dat sinn net meng Dreem, dat sinn net meng Wonschvirstellungen.“
Jean-Claude Juncker wollte um jeden Preis Beitragserhöhungen der Rentenversicherung verhindern. Die Unternehmer waren zufrieden. Nationalisten und Umweltschützer waren begeistert. Sie verstanden nichts von Rentenversicherung. Sie verlangten eine Wachstumsdebatte. Die Nationalisten wollten die Überfremdung der Heimat verhindern. Die Umweltschützer wollten die Zubetonierung der Heimat verhindern. Die Übergänge waren fließend.
Am 12. Oktober 2002 gründeten Junckers Jünger in Bartringen die Bürgerinitiative „Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg?“ Sie drohten, bei den Kammerwahlen die Parteipolitik aufzumischen. Sie versprachen, ihre Villenvororte gegen den Durchgangsverkehr der Grenzpendler zu verteidigen. Die Gnadenlosigkeit von Schotter-Gärten stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Im Wahlkampf 2018 hatte CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler noch einmal Junckers Übervölkerungsängste geschürt. Er verlor die Wahlen. Er verlor die Hoffnung auf eine schwarz-grüne Koalition von christlich-sozialen Nationalisten und wertkonservativen Umweltschützern. Der Verein „Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg?“ wurde am 25. Mai 2020 aus dem Firmenregister gelöscht. Mangels Aktivitäten.
Der Ruf nach einer Wachstumsdebatte war die Antwort auf sieben oder acht Prozent BIP-Wachstum der Vorjahre. Als er 2001 erscholl, war die Dot-com-Bubble schon geplatzt. Wenige Monate später begann der Krieg gegen den Terror. 2008 löste die Bankenkrise eine Rezession aus. Die Krisenkosten wurden maastrichtkonform auf die niederen Klassen abgewälzt. Das löste 2011 die nächste Krise aus. Seither stützen die Zentralbanken das Wachstum mit zinslosem Geld. Es folgte die Covid-Rezession. Mit Millionenzuschüssen verstaatlichte das Wirtschaftsministerium das Wirtschaftswachstum. Nun hat der Wirtschaftskrieg gegen Russland begonnen.
In den letzten Jahren vereinnahmten die oberen Klassen die Wachstumskritik. Sie retteten den Glauben an das Wachstum. Sie ließen das gute Wachstum erfinden. Sie nennen es nachhaltig. Sie versprechen, mit immer mehr Windrädern, Elektroautos und grünen Finanzen das Klima zu retten. Damit sich nichts an der Aneignung der Wachstumserträge ändert.