Seit Monaten steigen Energie- und Rohstoffpreise. Deshalb müssen die Unternehmen mehr zirkulierendes Kapital einsetzen. Den höheren Aufwand wollen sie durch eine Senkung des variablen Kapitals ausgleichen: durch Lohnsenkungen.
Die Nennwerte der Löhne und Gehälter stehen in der obersten Zeile der Lohnzettel. Eine Senkung der Nominallöhne erinnert an die nackte Gewalt des Arbeitsmarkts von früher. Heute steht das Arbeitsrecht einer Nominallohnsenkung im Weg. Die Unternehmen greifen auf die diskretere Variante zurück: die Senkung der Reallöhne. Deshalb stehen die Reallöhne nicht auf den Lohnzetteln. Die Buchhalter haben den Nominalismusstreit entschieden. Der Nominalismus ist der „Prototyp bürgerlichen Denkens“ (Adorno, Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 77).
Reallöhne sind die Nominallöhne geteilt durch den Preis der Waren. Wird der Nenner größer, wird eine Bruchzahl kleiner: Wenn der Preis der Waren steigt, sinken die Reallöhne.
Das statistische Amt des Wirtschaftsministeriums misst jeden Monat ausgewählte Warenpreise. Bis deren Preisniveau um 2,5 Prozent gestiegen ist. Dann zwingt das Indexgesetz die Unternehmen, die Nominallöhne um
2,5 Prozent zu erhöhen. Durch die Angleichung an die Warenpreise bleiben die Reallöhne konstant. Das ärgert die Unternehmen sehr.
Um die Reallöhne zu senken, bedarf es einer Änderung der gesetzlichen Prozedur. Reibungslos gelingt das mit dem Einverständnis der Gewerkschaften. Dazu gibt es die Tripartite. Ihre Effizienz als „Kriseninstrument“ wird öfters angezweifelt. Auch von DP, LSAP und Grünen. In Wirklichkeit ist die Tripartite ein Reallohnsenkungsinstrument. Als solches ist sie sehr effizient. Dann rufen auch DP, LSAP und Grüne sie schnell zusammen.
Die Tripartite verlagert Sozialkonflikte von den Betrieben und von der Straße in klimatisierte Konferenzsäle. Nunmehr ins Schloss von Senningen. Das Schloss ist militärisch abgeriegelt. Die Tripartite isoliert die Gewerkschaftsfunktionäre vom Gewerkschaftsvolk. Dann sind sie ausgeliefert. Das Unbehagen steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Basis will wieder nicht mitspielen.
Vergangene Woche diskutierte die Tripartite eine 2,5-prozentige Reallohnsenkung. Regierung und Unternehmer planten die Aufschiebung einer im Herbst fälligen Index-Tranche. Auf den Frühling des Wahljahrs 2023, wenn die nächste Tranche aufgeschoben wird. Auf 2024, wenn vielleicht eine weitere Tranche aufgeschoben wird... Der Ausfall einer Index-Tranche führt zu einem Verlust von 2,5% Lohn x 40 Monate = 100% Lohn: von einem Monatslohn binnen 40 Monaten.
Zum Trost versprach die Regierung Lohnabhängigen mit niedrigen Einkommen eine Steuergutschrift und Konsumhilfen. Vorbild ist die Mindestlohnerhöhung von 2019. Die Steuergutschrift und die Konsumhilfen werden nicht von den Unternehmen gezahlt. Sie sind keine bleibenden Lohnbestandteile. Sie werden aus der Staatskasse gezahlt. Die Staatskasse wird zu einem großen Teil aus der Lohnsteuer, der Mehrwertsteuer und anderen Abgaben der Lohnabhängigen gespeist: Die Lohnabhängigen bezahlen einen großen Teil ihrer eigenen Steuergutschrift und Konsumhilfen.
Die Unternehmen begründen die Notwendigkeit von Reallohnsenkungen mit dem rasanten Anstieg der Warenpreise. Die Löhne könnten nicht Schritt halten. Reallohnsenkungen seien im Konkurrenzkampf mit ausländischen Unternehmen unvermeidbar.
Die Entwicklung der Lohnquote liefert ein anderes Bild. Die Lohnquote drückt den Anteil der Lohnmasse an der Bruttowertschöpfung aus. Wenn die Tripartite 2006, 2010 und 2012 Reallohnsenkungen guthieß, sank jedes Mal die Lohnquote (Eurostat/CSL, Panorama social 2021, S. 8). Sinkt die Lohnquote, steigt der Mehrwertanteil, den sich die Kapitalbesitzer aneigneten. 2022 dürfte es ähnlich gehen.