LEITARTIKEL

Fissures

d'Lëtzebuerger Land du 15.04.2022

Kurz vor Mitternacht kündigte die Europäische Kommission am 31. Dezember ein Geschenk an Frankreich an: Atomkraft soll in die grüne Taxonomie aufgenommen werden. Die grünen Minister Claude Turmes und Carole Dieschbourg stellten sich im Januar entschlossen hinter Österreich, das eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof einzureichen plante. Sechs Mitgliedstaaten reihten sich in diesen deutsch-österreichisch-luxemburgischen Kurs ein. Claude Turmes behauptete damals gegenüber dem Land, die Freundschaft von Xavier Bettel und Emmanuel Macron „endet mit der Cattenom-Akte“, auch der Premier unterstütze den Ausstieg aus dem Atomstrom.

Vergangenes Jahr wurde auf dem Luxfilmfest An Zéro gezeigt; der Film thematisiert was mit Luxemburgs Einwohnern im Falle eines Atomunfalls geschehen würde. Vier Reaktoren befinden sich 25 Kilometer von Luxemburg-Stadt entfernt; „Cattenom“ ist das siebtgrößte Atomkraftwerk der Welt. Militante Bürgerschriftsteller wie Guy Rewenig oder Guy Wagner schrieben in den 1970ern gegen Atomkraftwerke an. Zuletzt musste sich ein älterer Mann in Yorick Schmits Eng Stëmm an der Stëllt (2019), um verwaiste Tiere kümmern, nachdem es zu einem Reaktorunfall in Cattenom kam. In Luxemburgs Kunstszene war die Angst vor Atomreaktoren fest verankert.

Der FEDIL Geschäftsführer René Winkin riet Ende März im Land, die Anti-Nuklear-Fraktion solle die geplante EU-Klage zurückziehen: Die Zahlen seien eindeutig, die Atomkraft helfe bei der Energiewende. Er weiß, dass er nun die Mehrheitsmeinung hinter sich hat, denn der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehenden Sanktionen üben einen hohen Druck auf den Energiesektor aus. Am CSV-Nationalkongress Ende März sagte Claude Wisler etwas zaghaft: „A mir brauchen nach an Europa… manner zu Lëtzebuerg … mee trotzdeem, eng Diskussioun iwwert den Nuklear“. Er selber sei kein Freund von Atomstrom, aber man dürfe sich keinem Dialog verschließen, da man sich aus „Erpressungssituationen“ gegenüber anderen Staaten lösen müsste.

In der Tat verbucht die Nuklearenergie einige Vorteile, die fossile Brennstoffe nicht bieten, wie weniger CO2 Ausstoß. Zudem liegen die Todesopfer-Zahlen viel niedriger als bei Öl und Gas, wie Statistiken von Our World in Data festhalten. Anders als Erneuerbare weist Atomstrom allerdings viele Nachteile auf: Es besteht keine zufriedenstellende Lösung für die Endlagerung von Atommüll; ihre Herstellung ist erheblich teurer als die von erneuerbaren Energien; an sie gekoppelt ist dubiose Militär-Forschung, und obwohl Claude Wiseler sie im Zusammenhang mit energiepolitischen Unabhängigkeitsbestrebungen nennt, wird Uran mehrheitlich aus Kasachstan importiert. Darüber hinaus muss man fragen: Wer hat schon erlebt, dass in einer Region behinderte Kinder zur Welt kommen, weil dort ein Windrad umgekippt ist?

Jetzt werden Umweltschützerinnen und Atomstromgegner belehrt, sie seien Ideologen. Aber hätte nicht massiv in erneuerbare Energien investiert werden müssen, als 1990 ein Bericht des Weltklimarats erstmals die wahrscheinlichen Auswirkungen der globalen Erwärmung berechnete? Trotzdem werden mehr fossile Brennstoffe denn je genutzt. Seit dem letzten IPCC-Bericht am 4 April wurden sieben neue Gas und Öl-Projekte bewilligt. Um von Braunkohle, Öl und Gas loszukommen, tingelt nun Emmanuel Macron durch seine Wahlveranstaltungen und spricht davon, „die Atomkraft neu zu erfinden“. Diese Woche meldeten erneut verschiedene Quellen Risse in den Leitungen des Kühlsystems in Cattenom. Carole Dieschbourg und Claude Turmes bestehen nun auf eine Sitzung mit der Informationskommission von Cattenom, um über die Einzelheiten des Problems informiert zu werden. So wirklich will man Macrons Atomprojekt doch nicht hinterher tingeln.

Stéphanie Majerus
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