Die Ökonomisierung der Gesellschaft

Wege aus der Krise der Demokratie

d'Lëtzebuerger Land vom 22.02.2013

Als neulich ein Künstler mir erklären wollte, dass das Projekt, an dem wir gerade arbeiten, ökonomisch gesehen absolut keinen Sinn ergeben würde, begann ich mir Gedanken zu machen. Irgendwie erinnerte mich das Gespräch an eine alte Geschichte über Bernard Baruch, die sich Ende der [19]20-er Jahre abgespielt haben soll. So hat sich Baruch angeblich jeden Morgen von demselben Schuhputzjungen die Schuhe putzen lassen. Eines Morgens dann soll der Schuhputzjunge ihm einen Aktientip gegeben haben. Baruch soll anschließend in sein Büro gegangen sein, seinen Börsenmakler angerufen und zu ihm gesagt haben: „Verkaufe meine Anteile. Wenn Schuhputzjungen schon Aktientips geben, ist es Zeit auszusteigen.” Ich stellte mir also die Frage, ob es jetzt auch Zeit wird, das sinkende Boot zu verlassen, wenn bereits Künstler über den ökonomischen Wert ihrer Kunst debattieren und, gemessen daran, beschließen, ein Projekt anzugehen oder eben auch nicht.

Es scheint, als ob die Ökonomie tatsächlich sämtliche Aspekte unseres Lebens befallen hat. Egal wo man hinschaut oder hinhört, wird über Staatsschulden, Schuldenschnitt, ökonomische Nutzen, wirtschaftliches Wachstum, Profit, Bonitätsnoten undsoweiter diskutiert. Egal in welcher Sparte, Energiewirtschaft, Baugewerbe, Finanzindustrie, Automobilindustrie, Stahlindustrie oder Pharmaindustrie, überall gelingt es gut organisierten Lobbygruppen, sowohl die Politik als auch die Medien so zu durchdringen, dass sich alles so entwickelt, wie sie es sich wünschen. Die Politik scheint komplett machtlos zu werden und nichts macht dies deutlicher als die seit fünf Jahren laufende Schuldenkrise. In Krisenländern werden demokratisch gewählte Politiker durch sogenannte Experten ersetzt, welche dann versuchen, die Länder nach ökonomischen Kriterien zu führen. Uns wird klar gemacht, dass wir gar keine ernsthafte Wahl mehr haben, sondern nur noch nach der technisch besten Lösung suchen können. Christine Lagarde hat darauf hingewiesen, dass die Institutionen der parlamentarischen Demokratie wegen ihrer Zeitaufwendigkeit und des Ausgangs ihrer nicht immer vorhersehbaren Verfahren denkbar ungeeignet seien, die Krise zu managen. Der Journalist Harald Schumann meint: „Alle unsere demokratischen Institutionen, gleich ob in Deutschland oder in der Europäischen Union, funktionieren mittlerweile so, dass systematisch jene begünstigt werden, die über große wirtschaftliche Macht verfügen.“ (Schumann, 2012)

Die globale Liberalisierung hat dazu geführt, dass Kapital höchst mobil geworden ist, während Arbeitnehmer, Gewerkschaften und vor allem Regierungen stets weiterhin den nationalen Grenzen Rechnung tragen mussten und müssen. Durch die Verschiebung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben kann sich eine Minderheit von Vermögenden über ihren Besitz an Kapital immer größere Macht anhäufen. Im Gegenzug bereitet sich in der übrigen Gesellschaft die Angst vor dem Abstieg aus. „Wer sich von Ausgrenzung bedroht sieht, trachtet seinerseits nach Ausgrenzung der noch schwächeren und Fremden. (...) Nicht die Armut selber ist eine Gefahr für die Demokratie, umso mehr aber die Angst davor“, so Harald Schumann weiter (Schumann, 2012). Wenn also eine Minderheit durch ihren Reichtum enorme Macht erlangt und somit die Gesellschaft nach ihren Wünschen gestalten kann, sieht es aus, als würde unsere Demokratie passiv in einer Ecke stehen. Es scheint also wirklich so, dass wir, was gesellschaftliche Visionen angeht, das Feld der Wirtschaft überlassen haben, und somit hat Richard David Precht wohl Recht, wenn er behauptet, dass der Sozialismus die Wirtschaft vergesellschaftlicht hat, dass wir allerdings unsere Gesellschaft verwirtschaften. Man kann sich der Frage von Oliver Flügel-Martinsen also anschliessen: „Was soll noch gestaltet werden können, wenn es bloss Notwendigkeiten zu vollziehen gilt?“ (Flügel-Martinsen, 2012)

Gibt es denn gar keine Alternativen mehr? Der Professor für Sozialökonomie, Werner Goldschmidt, meint: „Nachdem zu Beginn der Krise das skandalöse Versagen der Mainstream-Ökonomen eine Zeitlang kritisch reflektiert worden war, wird die Krise heute vor allem als Staatsschuldenkrise dargestellt und wahrgenommen, und um Kritik an der Neo-Klassischen beziehungsweise neoliberalen Ökonomie in der Öffentlichkeit wurde es wieder weitgehend still.“ (Goldschmidt, 2012). Kritiker, wie zum Beispiel die Occupy-Bewegung, verschwinden komplett aus der öffentlichen Wahrnehmung. „Die Vorstellung, dass es auch anders sein könnte, dass sich Dinge auch anders behandeln, anders gestalten ließen, scheinen aus den Köpfen der politischen Akteure, ja aus dem politischen Diskurs insgesamt zu verschwinden“, so Oliver Flügel-Martinsen weiter (Flügel-Martinsen, 2012).

„Wir brauchen politisch-gesellschaftliche Uto­pien, denn wenn wir keine Ziele an den Horizont malen können, dann sind wir auch nicht bereit, uns zu engagieren.“ (Precht, 2012). Genau hier scheint das Problem zu liegen. Wenn wir es zulassen, dass ökonomische Werte unser gesamtes Leben durchdringen, wird es geradezu unmöglich, neue Ziele zu setzen, welche nicht komplett vom ökonomischen Gedanken abhängig sind.

Und genau hier kommt jetzt die Kunst ins Spiel. „Die Kunst stellt dem zum Leitmotiv gewordenen Nützlichkeits- und Verwertbarkeitsdenken etwas entgegen“ so Thomas Krüger und Katharina Donath. Und weiter: „Sie kann irritieren, eingefahrene Denkweisen aufbrechen, sie akzeptiert und zeigt Widersprüche, Anti-Perfektes und Unsinniges, es geht um Zweckfreiheit und Verwirrung, Versuch, Irrtum und Perspektivwechsel“ (Krüger und Donath, 2012).

Um jetzt wieder zu meinem Anfangsgedanken zurück zu kommen: Was wäre Kunst, wenn sie nur nach ökonomischen Kriterien funktionieren und wirtschaftlich profitabel sein muss? Ist Kunst nicht per Definition experimental? Und ist das Resultat eines Experimentes nicht per Definition ungewiss? Das Resultat eines künstlerischen Projekts ist also somit auch ungewiss. Natürlich gibt es immer wieder Kunst und Künstler, deren Werke, ökonomisch gesehen, profitabel sind, dies jedoch als Voraussetzung für sämtliche artistische Arbeit zu definieren, wäre fatal. Es ist zudem nicht gezwungenerweise die Aufgabe der Künstler, sich Gedanken über die Profitabilität ihrer Arbeit zu machen. Vielmehr sollten sich kulturelle Akteure, also Inhaber und Betreiber kultureller Institutionen, Kulturmanager undsoweiter, Gedanken über ökonomische Fragen machen und den Künstler Platformen bieten, die es ihnen erlauben, sich frei zu entfalten.

Werner Heinrichs sagt: „Im Kulturmanagement steht in jedem Fall die Ermöglichung von Kunst und Kultur als oberstes Ziel im Vordergrund, und dies sowohl im gemeinschaftlichen (öffentlich-rechtlichen) als auch im privatwirtschaftlichen Kulturbereich“. Es geht als ganz klar darum, nicht der Versuchung zu unterliegen, „kulturelle Inhalte sekundären Vermittlungs- und Managementzielen unterzuordnen. Deshalb muss Kulturmanagement auf den verantwortungsvollen Umgang mit künstlerischem und kulturellen Inhalten ausgerichtet sein“ (Heinrichs, 1993). Was aber ist mit frei arbeitenden Künstlern, die nicht von einer kulturellen Institution unterstützt oder von einem „Manager“ beraten werden. Um in unseren, von ökonomischen Werten durchdrungen Gesellschaft als unabhängiger Künstler überleben zu können, scheint es fast unabdingbar zu werden, dass sich auch Künstler mit solchen Themen befassen. Zu verstehen ist dies schon allein dadurch, weil Künstler sich nicht mehr komplett von privatwirtschaftlichen Akteuren ausnehmen lassen wollen und so zumindest wissen wollen, was sie zum Beispiel gerade unterzeichnen. Wenn wir allerdings einen Weg aus der aktuellen Krise der Demokratie finden wollen, wären wir sehr gut beraten, die Kunst nicht komplett von wirtschaftlichen Werten einnehmen zu lassen. „Kunst interveniert in bestehenden Institutionen und Systemen und zeigt so auf, dass die Wirklichkeit veränderbar ist. (...) Kunst fordert den Betrachter auf, sich aktiv und kritisch mit dem Kunstwerk auseinanderzusetzen und sich dazu zu positionieren. (...) Das Bewusstsein, dass das eigene Handeln und die eigene Positionierung eine Wirkung hat und dass man die Gesellschaft dadurch gestalten und verändern kann, ist auch entscheidend für die Motivation der Bürgerinnen und Bürger, sich in der Demokratie zu engagieren“ so Thomas Krüger und Katharina Donath weiter (Krüger und Donath, 2012).

Als der französische Künstler JR 2011 in Long Beach den TED Prize überreicht bekam, hielt er eine interessante Rede: „Art can change the way we see the world. Art can create energy. Actually the fact that art can not change things makes it a neutral place for exchanges and discussions, and then enables it to change the world.“

Es sind jedoch nicht nur Künstler, die sich Gedanken über die Zukunft und dessen Gestaltung machen. Genau so wichtig sind Forscher, Studenten und Intellektuelle, die sich die Zeit nehmen, um tiefgründig über Probleme nachzudenken. Aber auch hier scheinen sich ökonomische Werte immer tiefer zu verwurzeln. So ist zum Beispiel ein geheimer Vertrag zwischen zwei Berliner Hochschulen, der Humboldt-Universität und der Technischen Universität, sowie der Deutschen Bank, höchst beunruhigend. „Die Unis und die Deutsche Bank einigten sich bereits im Jahr 2006 auf eine gemeinsame Forschungsinitiative. Im Jahr darauf bauten sie das ‚Quantitative Products Laboratory‘ auf, ein Institut für Angewandte Finanzmathematik, ausgestattet mit zwei ‚Deutsche-Bank-Stiftungsprofessuren‘ – komplett bezahlt von der Bank, mit drei Millionen jährlich. Laut Vertrag sollten mit den beiden berufenen Professoren Peter Bank und Ulrich Horst dort „gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten partnerschaftlich durchgeführt werden. (...) Im Grunde verpflichten sich die Universitäten, dass sie beim Institut so gut wie nichts entscheiden dürfen, ohne dass die Deutsche Bank zustimmt.“ (Lüpke-Naberhaus und Trenkamp, 2011). Dieses Beispiel beunruhigt umso mehr, wenn man weiß, dass auch die luxemburgische Universität eine Kooperation mit der Deutschen Bank Luxembourg S.A. unterhält. Weitere Beispiele bietet uns der Dokumentarfilm Inside Job (2010) von Charles H. Ferguson, der die Verstrickungen des amerikanischen Finanzsektors und vieler amerikanischer Universitäten beschreibt. Man kann also definitiv die langsame Ökonomisierung der Lehre und Forschung beobachten. Dies kann und darf aber auf keinem Fall zur Regel werden, vielmehr sollten auch hier die gesellschaftlichen Nutzen im Vordergrund stehen. Manche Forschungsgebiete sind natürlich überwiegend industriebezogen, andere dienen allerdings vielmehr der Allgemeinheit. Michel Pauly schrieb zum Beispiel: „Die Geisteswissenschaften machen keine Erfindungen zur unmittelbaren Verbesserung der Lebensqualität. Doch sie tragen dazu bei, die Gesellschaft zu verstehen, den Sinn bestimmter Entwicklungen zu erkennen, die kulturelle und soziale Realität kritisch zu begleiten – und damit das Zusammenleben zu verbessern“ (Pauly, 2012). Irgendwie erinnert diese Feststellung an die Rede von JR, und so ist es auch kein Zufall, dass man unter den Forderungen der Studentenvereinigung UNEL unter anderen die Folgende findet: „Forschung und Lehre muss frei von wirtschaftlichen Interessen bleiben. Denn auch Wissenschaft, die keine kurzfristige Rendite garantiert, ist für eine demokratische, offene und innovative Gesellschaft von Nöten.“

Die Gemeinsamkeit zwischen Kultur, Forschung und Lehre ist also, dass sie unter anderem dazu beitragen uns die Ziele an den Horizont zu malen, die wir so dringend brauchen, um uns wieder zu engagieren. Wenn es stimmt, dass Luxemburg sich immer wieder neu erfinden muss, um weiterhin ein Erfolgsmodell zu bleiben, wird es also ganz klar zur gesellschaftlichen Frage, ob wir diese Bereiche auch komplett an die Wirtschaft verlieren wollen; die gleiche Wirtschaft, die dazu beigetragen hat, dass wir uns gerade in dieser tiefen Krise der Demokratie befinden. Das Boot scheint im Moment also noch nicht komplett unter zu gehen, wenn wir ihm allerdings nicht sämtlichen Wind aus den Segeln nehmen wollen, sollten wir beginnen ganz klar Farbe zu bekennen.

DerAutor ist Vorstandsmitglied von déi Jonk Gréng.
Paul Matzet
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