Kräsi Die 90 Hektar große Geröllwüste zwischen Esch/Alzette und Audun-le-Tiche sieht aus wie ein riesiger Abenteuerspielplatz. Umrandet von kleinen Hügeln, hat sich in der Mitte ein See gebildet, an dessen Ufer Hecken und Sträucher wuchern. Auf französischer Seite wächst Gras. Seit 100 Jahren baut der Schotterproduzent Cloos SA hier Schlacken ab, zerkleinert sie und lädt sie mit Förderbändern auf LKWs damit Baufirmen sie als Kräsi in Straßen verarbeiten können. Doch seit der Schließung der Hochöfen bleibt der Nachschub aus. Bis 2023 sollen die Schlacken auf dem Crassier Terres Rouges abgetragen sein. Danach sollen noch zwei Jahre Sanierungs- und Erdarbeiten durchgeführt werden.
Pläne für eine Neuerschließung der Industriebrache liegen seit über zwei Jahrzehnten vor. 1999 wollte die Stadt Esch in der zwei Jahre zuvor stillgelegten Centrale thermique am Rande der Halde ein Kultur- und Jugendzentrum einrichten. 2002 sprengte Arcelor die drei daran angegliederten Kühltürme, obwohl die Stadt Esch einen Baustopp verhängt hatte. Die Umnutzung der Centrale thermique scheiterte 2003 am Widerstand der Regierung, die die Sanierung als zu teuer einschätzte. 2015 riss ArcelorMittal das monumentale Industriegebäude schließlich ab.
Auf der dahinter liegenden Halde, die ebenfalls Arcelor-Mittal gehört, soll ein grenzüberschreitendes Stadtviertel entstehen. 60 Hektar liegen auf französischer Seite, die restlichen 30 Hektar gehören zum Gebiet der Stadt Esch. Dem Escher Schöffenrat schwebt die Einrichtung eine Freizone vor. Das neue Viertel soll zum fehlenden Bindeglied zwischen Esch/Alzette und Audun-le-Tiche werden und zwei Regionen mit unterschiedlichen Hoheitsbereichen, wirtschaftlichen Dynamiken und politischen Befindlichkeiten miteinander verbinden.
Lebensreform Mit einer Internationalen Bauausstellung (IBA) wollen der grüne Landesplanungsminister Claude Turmes, die Uni Luxemburg und das Luxembourg Center for Architecture (Luca) die grenzüberschreitende Entwicklung im Luxemburger Süden nun vorantreiben. Die IBA ist ein urbanistisches Programm, das vor rund 120 Jahren in Deutschland ins Leben gerufen wurde. Vor dem Hintergrund der Lebensreformbewegung entstand 1901 auf der Mathildenhöhe in Darmstadt die erste Internationale Bauausstellung, die Kunst und Alltag, Stadt und Natur zu vereinen versuchte. Die bekanntesten Bauausstellungen wurden in Stuttgart (1925-1927), Berlin (1953-1957 und 1977-1987) und im Ruhrgebiet (Emscher Park; 1988-1999) durchgeführt. Inzwischen wurde das IBA-Programm auch für das Ausland geöffnet, erste Projekte entstanden im niederländischen Limburg, in Wien und im Dreiländer-eck in Basel, wo die erste grenzüberschreitende Bauausstellung in diesen Wochen zu Ende geht. Mit der IBA Alzette Belval könnte die renommierte „Marke“ ihren Exportkurs fortsetzen und der Minette-Region nach der Europäischen Kulturhauptstadt Esch 2022 und der Aufnahme der Pro-Sud-Gemeinden in das Man and the Biosphere Programm der Unesco weitere internationale Sichtbarkeit bescheren.
Das Format folgt keinem vordefinierten Schema und es gibt auch keine verbindliche Konvention darüber, was eine IBA ausmacht. Ausschlaggebend sind die Qualität, die Modellfunktion und der experimentelle Charakter der Projekte. Die IBA Alzette Belval befindet sich seit Anfang dieses Jahres in einer Vorbereitungsphase. Bis Anfang 2022 soll ein Dossier erstellt werden, das bei einem Expertenrat in Deutschland eingereicht werden muss. Dieser Rat aus Architekt/innen, Stadtplaner/innen, Forscher/innen und Soziolog/innen bewertet das Dossier und entscheidet über die Aufnahme in das Programm. Die IBA wird vom deutschen Bundesbauministerium gefördert, versteht sich aber als unabhängiges Organ.
Die IBA Alzette Belval ist auf zehn Jahre ausgelegt. In der Vorbereitungsphase geht es nun vor allem darum, ein Motto und eine Zielsetzung zu finden, und das Gebiet zu definieren, auf dem die IBA vonstatten gehen soll. Für Landesplanungsminister Claude Turmes soll das Territorium des Groupement européen de coopération territoriale Alzette Belval (GECT) als Ausgangspunkt dienen. Hier könnte laut Turmes eine zweite, grenzüberschreitende Metropolregion (neben der Stadt Luxemburg) mit über 100 000 Einwohnern entstehen. Das GECT wurde 2013 von den luxemburgischen Gemeinden Esch/Alzette, Monnerich, Sanem und Schifflingen und dem französischen Verbund Communauté de communes Pays Haut Val d'Alzette (Audun-le-Tiche, Aumetz, Boulange, Ottange, Rédange, Russange, Thil, Villerupt; CCPHVA) gegründet, um die Zusammenarbeit in der Region zu verbessern. Viel greifbares ist daraus noch nicht entstanden, das GECT versuche aber nun Impulse zu geben, um einen Fahrradweg zwischen Belval, Russange und Rédange einzurichten und die seit fast 20 Jahren geplante Neunutzung des ehemaligen Escher Freibads ERA, das unmittelbar an den Crassier grenzt, zu beschleunigen, erklärt die Urbanistin der Stadt Esch, Daisy Wagner, gegenüber dem Land. Der Escher Schöffe Pim Knaff (DP), der im März den Vorsitz des GECT übernommen hat, will insbesondere die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Rahmen von Esch 2022 verbessern und kündigt für den nächsten Europatag einen Bal musette in Esch/Alzette an.
Mille-feuille Der Crassier Terres Rouges könnte wegen seiner zentralen und grenzübergreifenden Lage in der Region zu einem bevorzugten Ort für Modellprojekte im Rahmen der IBA werden. Doch insbesondere auf französischer Seite befinden sich noch mehrere Brachen, die ebenfalls auf ihre Erschließung warten. Zu diesem Zweck hatte der französische Staat 2012 das Établissement public d’aménagement d'Alzette Belval (EPA) gegründet, das nun als Partner für die IBA gewonnen werden konnte. Durch den direkten Draht des EPA zu Paris könnte das administrative Mille-feuille umgangen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit erheblich erleichtert werden, hofft Turmes.
Eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung einer Internationalen Bauausstellung ist eine drängende regionale Problemlage, die es zu lösen gilt. Im Fall von Alzette Belval haben die Verantwortlichen die Wohnungsnot als Dringlichkeitsprogramm ausgemacht. Die Luxemburger Servicegesellschaft ist in hohem Maße auf Pendler/innen aus Frankreich angewiesen. Doch die Arbeitsmarktregion ist quasi leergefegt. Viele Einwohner/innen aus Luxemburg verlegen ihren Wohnsitz in die französischen Grenzortschaften, weil Grundstücke und Immobilien dort noch halbwegs bezahlbar sind. Gleichzeitig ziehen immer mehr Menschen aus weiter entfernten Regionen auf der Suche nach einem Job in die Nähe von Luxemburg. Durch diese Migrationsbewegungen steigt der Druck auf den Immobilienmarkt in der Großregion und lässt auch in den Dörfern entlang der Grenze die Preise anschwellen. Die alteingesessene Bevölkerung wird durch die neuen Migrant/innen verdrängt (vgl. d'Land vom 12. Februar 2021). Für die französischen Gemeinden wird diese Situation zunehmend zur Belastung und sie fühlen sich von ihren wirtschaftsstarken Nachbarn alleine gelassen.
Sowohl für die Uni Luxemburg als auch für die luxemburgische Regierung steht daher die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum auf beiden Seiten der Grenze bei der IBA im Vordergrund. Die Luxemburger Wirtschaft unterstütze das Projekt, denn attraktive Wohnlagen in der Grenzregion könnten neue Talente anziehen, erklärt Turmes. Die IBA sei zwar keine Wunderwaffe, aber sie könne Pilotprojekte mit einer gewissen Strahlkraft hervorbringen, die Architektur und Raumplanung noch in den nächsten Jahrzehnten prägen werden, betont der Architekturprofessor Peter Swinnen, der die Uni Luxemburg in den Planungsgremien für die IBA vertritt. Besonderen Wert soll dabei auf neue Wohnformen und alternative Modelle des Zusammenlebens gelegt werden, ohne jedoch dogmatisch zu sein, sagt Swinnen. Wohnen sei primordial und nicht nur etwas, das man nach der Arbeit tue, deshalb sei es wichtig, Einrichtungen wie Bibliotheken, Schulen und Kindertagesstätten zu schaffen. Auch Kulturhäuser und Sportstätten seien notwendig, ergänzt Marie-Josée Vidal, Erste Regierungsrätin im Landesplanungsministerium und Präsidentin der Entwicklungsgesellschaft Agora. Vidal erwartet sich von der IBA kritische Diskussionen über einen Mentalitätswechsel im Bereich der Bodennutzung, der Baudichte und der Erschließung gemeinsamer Räume. Swinnen weist darauf hin, dass sich insbesondere auf französischer Seite noch viele Dörfer befinden, was im Hinblick auf die Baudichte bei der Planung berücksichtigt werden müsse.
Der Wohnungsnotstand betreffe die gesamte Grenzregion, deshalb solle die IBA sich nicht nur auf das Territorium des GECT beschränken, meint Swinnen. Es wäre schade, wenn bestimmte Gemeinden, die interessiert sind, nicht mit einbezogen würden. Turmes will außerhalb des GECT-Gebiets bislang lediglich Satellitenprojekte durchführen (zum Beispiel in Differdingen oder Düdelingen). Bei einem Workshop vergangene Woche habe sich aber herausgestellt, dass beispielsweise die französischen Kommunen der Communauté d'agglomération de Longwy mit den gleichen Problemen wie ihre Nachbargemeinden aus der CCPHVA zu kämpfen haben. Man müsse versuchen, so viele Partner wie möglich mit an Bord zu bekommen, fordert Swinnen.
Dogger Als identitätsstiftendes Merkmal, das die gesamte Grenzregion von Longwy über Esch bis nach Düdelingen verbindet und neue Gemeinsamkeiten in einem noch eher (post-)industriell geprägten Umfeld schaffen könnte, hat der belgische Architekturprofessor die Naturlandschaft des Dogger ausgemacht. Dieser Begriff bezeichnet eigentlich die rund 175 Millionen Jahre alte geologische Schichtstufenlandschaft, die die für die Region so charakteristische rötlich schimmernde Minette enthält, dem die luxemburgische Südregion ihren Beinamen verdankt. Dieser Dogger verlaufe nicht nur auf luxemburgischer, sondern auch auf französischer Seite, stellte Swinnen fest, nur dass die Gebiete dort weniger bekannt und bislang nicht als Naturschutzzonen ausgewiesen sind. Sowohl Swinnen als auch Turmes betonen, dass die französische Seite des Dogger ebenfalls in das Unesco-Programm Man and the Biosphere aufgenommen werden könnte. Diese Naturlandschaften hätten nicht nur eine ökologische Bedeutung, sondern könnten auch als Naherholungsgebiet dienen oder als Quelle nachhaltiger Energie wirtschaftlich genutzt werden, sagt Peter Swinnen. Architektur könne auch öffentlicher Raum, Infrastruktur oder Natur sein. „Wir müssen einen globalen Blick auf ein Gebiet richten. Eine IBA, die nur aus ein paar Gelegenheitsprojekten besteht, wird keinen Erfolg haben“, unterstreicht der Architekt, der neben seiner Gastprofessur an der Uni Luxemburg mit Partnern ein Büro in Brüssel betreibt.
Thematisch hält Turmes darauf, dass die Kriterien seines neuen Raumplanungsprojekts Luxembourg in Transition und der Plans sectoriels auch in der IBA berücksichtigt werden (vgl. d'Land vom 26. Februar 2021): Null Bodenverbrauch (no net landtake), kein CO2-Ausstoß, Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft und Bürgerpartizipation, zählt der Minister auf. Nachhaltige Kriterien sollten heute eigentlich bei jedem neuen Urbanismusprojekt Standard sein und müssten daher keine Besonderheit der IBA darstellen, ergänzt Swinnen im Gespräch mit dem Land.
Durch ihren experimentellen Charakter ist die Internationale Bauausstellung seit ihrer Gründung eine Projektionsfläche für reformistische Vorstellungen, Wünsche und Träume. In Frankreich sei das Experimentieren inzwischen sogar gesetzlich abgesichert, erklärt Turmes. Vor fast 20 Jahren wurde das droit à l‘expérimentation des collectivités locales in der Verfassung verankert. Erst vor einem Monat wurde die Prozedur noch einmal gesetzlich neu geregelt. Es ermöglicht, bestimmte Praktiken ohne Rücksicht auf bestehende Gesetze in einem begrenzten und strikt definierten Rahmen auszuprobieren. Auch im Bereich der Stadtplanung und des Wohnungsbaus. Dieses Recht passe gut zur IBA, unterstreicht Marie-Josée Vidal: „Wenn man merkt, dass das Experiment funktioniert, kann man die Gesetzgebung gegebenenfalls anpassen. Wenn es nicht funktioniert, muss man seine Lehren daraus ziehen“. Konkret könnte man zum Beispiel ein Projekt höher bauen, als gesetzlich erlaubt, oder weniger Parkplätze vorsehen, als vorgeschrieben, sagt Vidal. Turmes kann sich vorstellen, im Bereich der Kreislaufwirtschaft zu experimentieren. Auch Peter Swinnen möchte im Rahmen der IBA Dinge ausprobieren, die unter normalen Umständen mit den aktuellen Regeln und Gesetzen nicht möglich sind. Allerdings müsse die Politik klare Prioritäten festlegen. Trotz ihres experimentellen Charakters sei eine IBA kein Freifahrtschein „pour faire n'importe quoi“, mahnt der Architekturprofessor. Es sei wichtig, die soziale Verantwortung und die gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht aus den Augen zu verlieren.
Kosten Die IBA Alzette Belval soll aber mehr als ein Experimentierfeld für Stadtplaner/innen und Architekt/innen werden. Eine Gesellschaft (über die Rechtsform ist man sich noch nicht einig) mit einem Büro und festen Mitarbeiter/innen soll Gemeinden, Bauherren und Prvitapersonen mit einbinden und sie bei ihren Projekten beraten. Das Hauptbüro wird voraussichtlich in Frankreich angesiedelt, doch in Esch/Alzette könnte eine Filiale entstehen. Zurzeit werde ein wissenschaftliches Komitee mit internationalen Expert/innen zusammengestellt, um zu gewährleisten, dass ein gewisses Niveau an Qualität und Innovation erreicht werde, sagt Turmes. Namen wolle er noch keine nennen. Auch eine Charta, die in den vergangenen Wochen offenbar ausgearbeitet wurde, wollte das Landesplanungsministerium auf Nachfrage nicht herausgeben.
Bis zum Start der IBA Alzette Belval muss noch die Finanzierung geklärt werden. Alleine mit der Aufnahme in das Programm sind keine Zuschüsse durch den deutschen Bund oder die IBA verbunden. Sowohl für die noch zu schaffende Gesellschaft (und das Personal), als auch für die stadtplanerischen Projekte müssen die Partner eigene Mittel aufbringen. Diese können entweder privat oder öffentlich sein. Auf staatlicher Ebene werden diese Diskussionen im politischen Komitee geführt, das sich alle zwei bis drei Monate treffen soll. Ob Frankreich und Luxemburg sich die Kosten teilen werden oder ob Luxemburg auf diese Weise einen weiteren Teil der von französischer Seite gelegentlich geforderten Steuerrückführungen begleichen wird, ist noch unklar. Die Uni habe vorgeschlagen, dass die öffentlichen Akteure auf beiden Seiten sich budgetär engagieren sollten, sagt Swinnen. Eine IBA könne und dürfe sich nicht alleine auf private Bauherren verlassen. Durch seine internationale Visibilität könne die IBA auch die Chance auf europäische Fördergelder erhöhen, meint Marie-Josée Vidal. Der Expertenrat warnt jedoch davor, dass die Vergabekriterien von nationalen oder europäischen Förderprogrammen die durch die IBA gesetzten Ziele eines Projekts verändern könnten.