Die Performance Inlet wurde für Auszeichnungen auf dem Fringe Festival nominiert

Luxemburger Tanzkunst erobert Schottland

d'Lëtzebuerger Land vom 22.08.2025

Zwei Tänzerinnen und ein Tänzer sitzen auf Klappstühlen in der Dancebase, Schottlands nationalem Zentrum für Tanz in Edinburgh. Sie tragen ein Kostüm aus dem Kabel ragen, auf ihren halbnackten Körpern kleben etliche weisse Pflaster. Plötzlich heben sich ihre Arme und Finger ruckartig, Schulter und Schenkel zucken unkontrolliert. Mit leerem Blick schauen sie ins Publikum, während ihre Arme aufspringen, ihre Hände und Finger krampfartig hin- und herdrehen.

Es handelt sich hier um score, ein Stück von Isaiah Wilson, in dem die Körper der TänzerInnen durch elektrische Muskelstimulation bewegt werden. Eine Choreografie, gesteuert von einem Computercode, bei dem die TänzerInnen ihren Körper nicht vollständig kontrollieren. „Die ersten fünf Minuten sind ganz von Maschinen gesteuert“, erklärt Isaiah Wilson, der Choreograph des Stücks. Die Tänzerinnen und Tänzer „sitzen nur da, die Maschine macht alles.“ Das Resultat ist ein verstörendes und gleichzeitig sehr bewegendes Stück, das die Rolle des Körpers und des freien Willens in einer Zeit des technologischen Vorsprungs hinterfragt.

„Wir benutzen Technologie, wie unser Smartphone, jeden Tag. Und wir vergessen, welchen Impakt dies auf unseren Körper hat,“ so Isaiah. „Wenn man das Smartphone in der Hand hält, bewegt man nur den Finger. Um eine Information zu finden, muss man nicht mehr in eine Bibliothek gehen und ein Buch aufschlagen. Man braucht eigentlich nur einen Finger, und irgendwann brauchen wir unsere Finger nicht mehr, dann genügt ein Gedanke,“ sagt Isaiah. „Das ist es, was ich interessant finde: Wo ist der Platz des Körpers in der Gesellschaft?“

Die Dramaturgie war ihm sehr wichtig. Isaiah Wilson wollte verhindern, dass das Stück zum Gimmick wird. Hier kommen die Talente der Performer Aurore Gruel, Meggie Isabet, Wilchaan Roy Cantu zum vollen Zug. Ihre Gesichtsmuskeln werden nicht elektrisch stimuliert, auf ihnen kleben keine Elktrodenpads. Sie können also Angst, Verzweiflung und Trauer ausdrücken, während ihre restlichen Muskeln den Launen des Computercodes ausgeliefert sind.

Vor allem die Darstellung von Meggie Isabet in einer der Kernszenen ist sehr mitreißend. „Wir wollten die Emotion hinter der Idee zeigen, um auch den Punkt wirklich rüberzubringen. Ich glaube, ohne Emotion geht das nicht,“ so Isaiah. „Ich hoffe, dass die Leute, wenn sie nach Hause gehen, darüber nachdenken: Was habe ich gesehen, wieso hat mich das so berührt? Die Technik vergisst man dann irgendwann. Es war halt auch das Ziel, dass die Emotionen die Überhand nehmen und man sich fragt, ‘was mache ich mit meinem freien Willen?’“ so Isaiah Wilson.

In der Tat begleitet einen dieses Werk noch lange nachdem man die Dancebase verlassen hat. Man lässt sich von Google Maps durch das Chaos des Fringe Festival führen, liest vielleicht Rezensionen auf seinem Smartphone, ruft sich ein Taxi, chattet mit einer Freundin - alles ohne sich eigentlich viel zu bewegen.Daran erinnert die Performance.

Tickets kann man sich auf der Webseite des Festivals im Voraus buchen, doch oft entdeckt man beim Schlendern durch die Stadt witzige Flyer, die einem KünstlerInnen entgegenstrecken, oder man sieht improvisierte Strassen-Aufführungen von Shows die kein Werbebudget haben, und über die man sonst wohl nie erfahren hätte. Der Do-It-Yourself Ethos ist ein wichtiger Teil des Fringe.

Und um aus der Menge hervorzutreten, müssen sich Künstlerinnen oft was einfallen lassen, denn das Angebot ist überwältigend, wenn jedes Jahr im August KünstlerInnen, TänzerInnen, Comedians und KabarettistInnen die schottische Hauptstadt in ein chaotisches Fest der Kreativität verwandeln.

Unter den mehr als 3000 Veranstaltungen dieses Jahr waren zum Beispiel ein Satirisches Theaterstück über Amerikanische Polizeifilme (Police Cops), ein Musical, das jeden Abend neu improvisiert wird (Baby wants Candy), ein Tanz-Thriller über das queere Leben in Brasilien (Tom at the Farm), eine Stand-Up Show über Männlichkeitsbilder aus der Sicht eines Footballfans (Why I Stuck a Flare Up My Arse for England), eine Circusshow für Kinder, in der Furzwitze eine große Rolle spielen (Children are Stinky) und eine Australische Frank Sinatra Drag Show (Skank Sinatra). Das Motto des Festivals, „Die weltweit größte Plattform für kreative Freiheit,“ hat sich das Fringe Festival verdient.

Die diesjährige Luxemburger Delegation, die ausschließlich aus choreografischen Projekten besteht, passt ins Schema. Jennifer Gohier erschafft mit Go! eine Mischung aus Kampfsport und Tanz, die mit clever eingesetztem Lichtspiel und Soundeffekte Kinder und Erwachsene zum Lachen bringt. Das Stück ruht auf der spielerischen Zusammenarbeit zwischen Ville Oinonen, einem finnischen Karateka und Tänzer, und dem Belgier Youri De Gussem, der neben dem Tanz auch die japanische Kampfkunst des Bujinkan Budo Taijutsu praktiziert.

Die beiden necken sich gegenseitig mit präzisen Bewegungen und impressionanten Tanzbewegungen, tun sich dann in einem Tetris-artigen Spiel zusammen, um Lichtblöcke mit Stäben auf dem Bühnenboden auszuschalten. Das Bühnenbild und das Sound-Design benutzen Referenzen von Manga, Kung Fu-Filmen und Videospielen. Junge Zuschauer, die sich auf Kissen am Bühnenrand Platz nehmen, sind vor allem vom Zweikampf dieses Tanzes fasziniert.

„Es ist toll, den Kindern Kampfsport näherzubringen, angeleitet von zwei Männern, die beides können. Es ist ein guter Einstieg für Kinder, die den zeitgenössischen Tanz entdecken möchten“, so Jennifer Gohier, die Choreographin, die sich ausschließlich auf Tanztheater für Kinder spezialisiert hat.

Besucher ahnten nicht, dass es vor der Show ein wenig hektisch hergegangen ist. „Wir hatten technische Probleme in letzter Sekunde, was auf dem Fringe halt manchmal vorkommt“, sagt Jennifer Gohier. Denn die verschiedenen Spektakel im Zoo Southside liegen zeitlich derart dicht aneinander, dass es bei unerwarteten Problemen zu nervenzerreißenden Situationen kommen kann. „Glücklicherweise habe ich ein super Team, das das gut gemanagt hat,“ sagt sie.

Im Publikum von Go! sind Menschen aus China, dem Vereinigten Königreich und Australien, auch werden sich Kampfsport-Gruppen das Stück anschauen, sagt Jennifer Gohier. Sie selbst wird sich auch die Shows der anderen Künstler der luxemburgischen Delegation ansehen, mit einigen hat sie sich schon zum Kaffee getroffen. „Es ist sehr bereichernd, sich über die Visionen auszutauschen“, sagt sie. Beim Fringe Festival gehe es ihr darum, „so viel wie möglich zu entdecken.“

Mit der Ankunft der Künstler steigen in Edinburgh jedes Jahr die Preise drastisch, so dass sich viele Künstler und Zuschauer das Festival nicht mehr leisten können. Ohne Kultur:Lx wäre Go! nicht in Edinburgh am Start, sagt Jennifer Gohier.

„Im Vergleich zu anderen Künstlern sind wir in einer sehr glücklichen Position. Wir sind in einem der besten Veranstaltungsorte des Festivals, das ganze Team wird bezahlt, wir haben eine Unterkunft und bekommen einen Tagessatz,“ so die Choreographin. „Neben finanzieller Hilfe bietet Kultur:LX auch strategische Unterstützung,“ so Jennifer Gohier und fügte hinzu, dass Kultur:LX Beratung anbietet und auch Showcases organisiert, was der Reichweite der Kunst wiederum zugutekommt. Go! wird zum Beispiel im September in Finnland zu sehen sein.

„Kosten sind bei Festivals, nicht nur beim Fringe, immer eine Herausforderung,“ so Emilie Gouleme, Kommunikationsleiterin von Kultur:LX. Den KünstlerInnen der luxemburgischen Delegation wird demnach unter die Arme gegriffen: „Wir übernehmen folgende Kosten: Reise, Unterkunft, Honorare für technische und künstlerische Teams, Tagegelder und Werbekosten.“ „Diese Unterstützung ist substanziell, erfordert aber auch eine gewisse Investition der Kompanien selbst.“

Die meisten Künstler des Fringe Festivals können von solch einer Unterstützung nur träumen. „Unsere Unterkunft ist sehr teuer. Wir wohnen zu zwölft in einem Studentenwohnheim und zahlen etwa 17 000 Pfund für einen Monat,“ so Jake Evans, ein britischer Tänzer, der während dem Festival in Small Town Boys auftritt, ein Tanztheater über das queere Nachtleben und die Aids-Krise der 80er und 90er. Für eine Nacht in einem Drei-Sterne-Hotel im Zentrum der Stadt kann man gerne bis zu £400 hinblättern. Dies können sich Künstler, die oft den ganzen August durch auf dem Festival auftreten, kaum leisten.

Die diesjährige Edition ist nicht nur wegen den bereits hohen Lebenskosten sehr teuer, sondern auch wegen der Reunion-Tour von Oasis. Denn die britische Band um die Gallagher Brüder spielte am zweiten Wochenende des Fringe Festivals drei Konzerte im Waverley Stadium in Edinburgh. Die Mischung von angetrunkenen Oasis Fans und flyernden Clowns und Kabarettisten sorgte an manchen Abenden für skurrile Bilder in der Stadt, doch vor allem trieben die Konzerte die Preise in die Höhe. Der Independent berichtet, dass die Übernachtungspreise in Edinburgh dieses Jahr um bis zu 74 Prozent gestiegen sind.

Einige Künstler greifen zu verzweifelten Mitteln: Amy Albright, eine Komikerin aus Manchester, schläft in ihrem Auto für zwei Wochen, weil sie sich keine Unterkunft leisten kann. „Ich parke das Auto außerhalb der Stadt in einer sicheren Gegend und benutze ein Fitnessstudio zum Duschen,“ sagte die Komikerin in einem Interview mit Sky News. Journey Maranto und Jonathan Yawn sind mit ihrer Kinderveranstaltung Bubblegum Gumdrop Show aus Chicago angereist. Sie hoffen, mit der Show die Kosten der Reise zu decken. Sie übernachten in einer Studentenwohnung außerhalb der Stadt, wo sie auch ihre eigenen Mahlzeiten kochen, um Geld zu sparen. Jeden Tag fahren sie per Zug in die Innenstadt und teilen sich nach ihrer Show einen ‘Meal Deal’. Das ist ein Sandwich, eine Tüte Chips und ein Getränk, das man für knapp £4 bei einer britischen Supermarktkette kaufen kann.

Diese Kompromisse lohnen sich, sagt Journey Maranto, während sie in der Altstadt Flugblätter für ihre Show verteilt. „Es kostet viel Geld, aber es lohnt sich, die Show hier zu zeigen und sich andere Veranstaltungen anzusehen. Außerdem ist es eine gute Übung für uns, da wir noch an unserer Show feilen,“ sagt die Hauptdarstellerin der Show. „Es zeigt auch, dass du eine Person bist, die mit ihrer Kunst raus in die Welt geht und nicht darauf wartet, dass jemand sie einstellt. Eine Person, die sagt, ‘Ich habe eine Vision, und das hier ist es, was ich machen will,“ sagt sie. Sie hofft, dass das Fringe ihrer Show weitere Türen aufmachen wird.

Vertreter des Fringe Festivals waren im November in Luxemburg zum Focus sur le Spectacle vivant, einer Veranstaltung, auf der Programmgestalter luxemburgische Kunst entdecken konnten. Mit dabei war auch Fringe-Produzent und Programmierer von Sommerhall, einem Veranstaltungsort des Fringe, das für seine experimentelle Programmierung beliebt ist (hier führte Richard Gadd seine Show Baby Reindeer auf, die später von Netflix verfilmt wurde und zum viralen Hit wurde). Ihm gefiel Léa Tirabasso’s Stück In the Bushes, das man sich nun nachmittags im Summerhall anschauen kann.

Die Choreographin beschreibt ihr Stück als „total absurd, grotesk und freudig verrückt.“ Es ist ein Stück, das hinterfragt, was man zeigt und macht, wenn man alleine ist. „Berühren wir nicht in dem Moment, in dem wir gesellschaftliche Konventionen ablegen, das Wesentliche dessen, was wir sind?“ so Léa Tirabasso. Die Show ist mitreißend, auch wenn man nicht immer versteht, was genau auf der Bühne vor sich geht. In Behind the Bushes handelt von Ungehemmtheit, Unschuld und tierischen Trieben, die dann in Scham und Trauer überschwappen.

Sechs TänzerInnen leben eine weite Bandbreite an Gefühlen aus, manchmal wirken sie kindlich, manchmal wild und tierisch. Es wird gegrunzt, gesungen, gelacht, geweint und sich angefasst. In der Showbeschreibung werden Zuschauer unter anderem vor Nacktheit gewarnt. Eine Frau im Publikum hält sich jedoch schockiert die Hand vor den Mund, als eine Tänzerin ihr Kostüm ablegt. Ihre Reaktion illustriert perfekt den Druck der sozialen Konventionen, die deutlich werden, wenn doch einer hinguckt. Man fragt sich auch, ob dies die erste Fringe Show war, die diese Zuschauerin sich ansah, denn Nacktheit ist keine Seltenheit auf diesem Festival. Andere Zuschauer sind von der ungehemmten Bande gerührt, die Show erhält tobenden Applaus.

„Ich glaube, das Publikum geht ins Summerhall, weil das Programm ziemlich ausgefallen und unkonventionell ist. Es ist ein Programm, das Risiken eingeht, und das liebe ich,“ so Léa Tirabasso. Generell findet sie, dass das Publikum hier neugierig und sehr gastfreundlich ist. Sie hofft, dass das Festival zu einer internationalen Tour, neuen Auftragsarbeiten oder Kooperationen führt. „Für mich ist das Fringe-Festival eine Tür zur Zukunft, sei es für dieses oder das nächste Stück. Ich bin auf Begegnungen eingestellt,“ so die Choreographin.

Für Saeed Hani, einen weiteren Künstler der luxemburgischen Delegation, hat sich das Festival bereits gelohnt. Inlet, seine Show, die sich mit der römischen Legende von Romulus und Remus beschäftigt, wurde am Montag für die The List Festival Awards 2025 in der Kategorie Best Dance, Circus & Physical Theatre Show nominiert.

Claire Barthelemy
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