Euthanasie-Votum

Vom liberalen Minimum

d'Lëtzebuerger Land vom 21.02.2008

Als die Abgeordnetenkammer am Dienstag über die Euthanasie-Vorlage von Lydie Err und Jean Huss debattierte, schien das Abstimmungsergebnis irgendwann in der Luft zu liegen. Zu groß war die Zahl der Redner, die eine Strafbefreiung aktiver Sterbehilfe unter bestimmten Bedingun­gen befürworteten. Allzu bald wurde klar, dass sich hier auch ein rot-blau-grünes Bündnis gegen den CSV-Staat zu erheben anschickte, dessen Vertreter seltsam schwach erschienen. Und dass nach der Sitzung im Bistrot de la Presse vis-à-vis vom Parlament Pre­mier Jean-Claude Juncker im Fernsehen zu sehen war, wie er einen Preis empfing, in Berlin, fern der Heimat, gab dem Abend nach der soeben zu Ende gegangenen Nonstop-Sitzung von sechseinhalb Stunden etwas derart Surreales, dass man sich eine Zeitlang am Wahltag 2009 wähnen konnte – après Juncker und mit einem ungewöhnlichen Wahlresultat. Und man konnte vergessen, worum es am Diens­tag eigentlich gegangen war.

Es war natürlich um das Recht, über Leben zu verfügen, gegangen, und besonders eindrücklich hatte die DP-Abgeordnete Colette Flesch argumentiert, dass die Frage doch sei, ob der Mensch das Maß aller Dinge sein soll, ob also er über sein Leben entscheiden darf oder stets irgendeine Autorität das letzte Wort haben soll. Wie austauschbar, je nachdem, welche konkrete Frage an den Machterhalt gestellt wird, für Konservative der Verweis auf den „Wert des Lebens“ an sich sein kann, konnte die DP-Politikerin besonders gut zeigen, die die Einzige im Saal war, die Ende der Siebzigerjahre auch an den Abstimmungen über die Lockerung des Abtreibungsrechts und die Abschaffung der Todesstrafe teilgenommen hatte – neben Fernand Boden, der auf der Regierungsbank fein lächelte.

Es war dabei aber auch um die Frage der Gesundheits- und Pflegeversorgung in der Zukunft gegangen. Nur gesprochen wurde darüber kaum. Als die CSV-Abgeordnete Marie-Josée Frank, ehemals Krankenschwester im Palliativbereich, das Bild einer „Sterbebegleitung“ entwarf, in der ein in seinem Schmerz therapierter Sterbenskranker sagt: „Mir tut nichts mehr weh, ich kann nun gehen, hab heute morgen noch einen Rosenkranz gebetet, nun hol‘ mich!“, und meinte, die Gesellschaft müsse Sterbenden zu verstehen geben: „Du bist nicht allein, wir halten deine Hand“, wurde hier und da im Kammerplenum verhaltenes Stöhnen und Füßescharren laut bei so viel Wort zum Sonntag. Doch ob Franks Argument, selbst eine streng limitierte und kontrollierte Sterbehilfe, die nur in Einzelfällen in Anspruch genommen würde, führe zu einer Gesellschaft, die „Alte und Kranke nach ihrer Rentabilität bemisst“, ausreichend entkräftet ist mit dem Verweis, Euthanasie solle die „absolute Ausnahme bleiben“, die Palliativbetreuung werde ebenfalls ausgebaut, keinesfalls solle eine kostenaufwändige Palliativpflege durch billiges „Abspritzen“ ersetzt werden, ist hier und heute nicht abschließend zu beantworten.

Dass Luxemburg noch in dieser Legislatur eine ans belgische Vorbild angelehnte Euthanasiegesetzgebung erhalten wird, darf als ziemlich sicher gelten. Wegen der abenteuerlichen Abstimmungsprozedur vom Dienstag orakelten zwar noch gestern die sozialistische Vorsitzende des parlamentarischen Gesundheitsausschusses Lydia Mutsch im Tageblatt und nicht namentlich genannte „Kenner der Gesetzgebung“ im Wort, zu welchem Verdikt der Staatsrat über die Koexistenz eines Euthanasie-Gesetzes mit dem unmittelbar zuvor verabschiedeten Palliativgesetz kommen könnte. Aber selbst wenn beide Gesetze noch einmal aufgeschnürt werden müssten, dürfte sich kaum an der prinzipiellen Freigabe der Euthanasie etwas ändern: Dazu war der Dienstag im Parlament ein zu historischer, sind die nächsten Wahlen zu nah, will auch die CSV nicht zu „konservativ“ erscheinen.

Das Votum war zum einen eines für mehr Rechtsstaatlichkeit. Jean Huss hatte Recht, als er noch am Samstag vergangener Woche in einem Streitgespräch mit dem Generalsekretär des Ärzteverbands AMMD im Radio 100,7 meinte, es könne nicht sein, dass Sterbehilfe hierzulande im Geheimen praktiziert wird. Auch wenn niemand deren Ausmaße kennt: dass es das gebe, erklärte 2003 in einer parlamentarischen Orientierungsdebatte der medizinische Direktor des CHL und damalige DP-Abgeordnete Marco Schroell; am Dienstag ging LSAP-Präsident Alex Bodry so weit zu sagen: „Fast jeder von uns kennt doch Beispiele aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis, die zeigen, dass es Euthanasie gibt und gegeben hat.“ Das mag Gerede sein, andererseits ist es in Luxemburg nicht unüblich, medizin-ethische Debatten zwischen links-liberalem und konservativem Spektrum zu vermeiden, indem man toleriert. Solche Verhältnisse lassen eine „Grauzone“, die sich jeder Kontrolle entzieht, leider wahrscheinlich scheinen. Und was ist mit den in der Neonatalogie tätigen Ärzten, die Frühstgeborene und schwerstbehinderte Neugeborene erlösen – natürlich in Abstimmung mit den Ethik-komitees der jeweiligen Klinik und den Eltern der Kinder? Brauchen diese Ärzte nicht einen Schutz vor Strafverfolgung, wie der Gynäkologe Michel Clees in der Klortext-Sendung im RTL-Fernsehen am 8. Februar andeutete? Wahrscheinlich ja.

Das Votum war zweitens eines für mehr Selbstbestimmung. Ein Recht zur Abwehr autoritärer Einflussnahme auf die Art, das eigene Leben zu beenden, entsteht. Dieses wünschen sich offenbar, wie die von TNS-Ilres für das Tageblatt durchgeführte und in dessen Samstagsausgabe vor einer Woche politisch wirkungsmächtig platzierte Umfrage ergab, über 78 Prozent der über 15-Jährigen, und über 67 Prozent meinten, sie würden gegebenenfalls um ärztliche Sterbehilfe nachsuchen. Damit stimmt das Votum vom Dienstag deutlich mit dem Willen der Leute draußen im Land überein.Aber – welche Perspektiven hat die-ses liberale Abwehrrecht? Dass ausgerechnet im „Marienland“ eine Mehrheit für Euthanasie eintritt, kann überraschen. In ihren Gutachten zum Thema ab 1998 fand die nationale Ethikkommission, die Gesellschaft sei „noch nicht so weit“. Anscheinend ein falscher Schluss. Aber es ist davon auszugehen, dass die Patienten als Akteure im Gesundheitssystem sich stärker als Konsumenten verstehen, als es manchem Gesundheitspolitiker und Ethiker lieb sein kann. So gesehen, verwundert das mehrheitliche Ja zur Euthanasie gar nicht: Sogar die Pflichtversorgung im Gesundheitswesen kann dank noch immer anhaltender Zuwächse in der Beschäftigung vor allem junger Grenz­gänger bei einem niedrigen Beitragssatz einen Leistungsumfang bieten, der – abgesehen von Ausnahmen wie Zahnersatz – nah an den von Privatversicherungen heran reicht. Nun wird in einer überaus offenen Gesellschaft halt Euthanasie nachgefragt. Wobei es zur Ironie des Systems gehört, dass die liberale Ärzteschaft, die an der guten Finanzausstattung des Gesundheitswesens ebenfalls partizipiert und ihre Therapiefreiheit immer wieder als „auch im Patienteninteresse“ verteidigt, von ihren Koalitionären nun vor die schwierige Aufgabe gestellt wird, ihr Berufsethos neu zu interpretieren: Als habe der Arzt dem Patienten einfach alles zu geben, was dieser will, und sei es den Tod.

Vielleicht versteckt sich hinter dieser Haltung weniger eine Selbstbestimmung als vielmehr ein regressiver Wunsch nach Geborgenheit bei der ärztlichen Autorität, die im Notfall mit der Spritze zur Hand ist. Oder aber, nur in einem gut versorgten Land wie Luxemburg kann eine gesellschaftliche Befürwortung der Euthanasie nichts sonst als das Mitgefühl mit schwer Leidenden zum Motiv haben. Denn man könnte sich ja fragen, wieso um alles in der Welt angesichts eines Gesundheits- und Pflegewesens, das unter Kostendruck steht und welches die Versicherten in den letzten sechs Monaten ihres Lebens nachweislich am teuersten zu stehen kommen, eine Furcht vor Überversorgung ausgerechnet am Lebensende aufkommen kann. Dieser Kostendruck aber besteht hierzulande so nicht. Noch nicht.

Die Sache ist die, dass die heile Welt, in der die Entscheidung vom Dienstag fiel, vielleicht nach dem Ende der amerikanischen Subprimes-Krise erhebliche Blessuren erhalten haben könnte, vielleicht unter der nächsten Regierung erhalten wird, falls diese den Staatsanteil an den Sozialversicherungen zu senken versucht. Vielleicht erst auf noch längere Sicht, wenn bei steigender allgemeiner Lebenserwartung die Lebenserwartung bei guter Gesundheit weiter stagniert und für größer werdende Teile der Bevölkerung ein Altern bei chronischer Krankheit wahrscheinlich wird. Vielleicht auch angesichts biomedizinischer Errungenschaften wie prädiktiven Gentests und personenbezogenen Arzneien auf Grund eines individuel-len Genprofils für Krankheitsrisiken und Therapiepotenziale. Vielleicht auf Grund neuer Arzneimittel, die mit Biopatenten versehen und deshalb so teuer sind, dass sie nicht mehr für jeden zur Verfügung stehen. Die Frage, ob Euthanasie einen ethischen „Dammbruch“ bedeuten könnte, ist nicht irrelevant geworden. Tritt ein Euthanasiegesetz in Kraft, haben nicht nur Gesundheitspolitiker, sondern die ganze Gesellschaft dafür Sorge zu tragen, dass es nicht Teil eines biopolitischen Konzepts zur Verteilung von Lebensressourcen wird, das eindeutig gegen eine Selbstbestimmung gerichtet wäre. Nicht morgen, nicht in 50 Jahren, nie. Andernfalls wäre das Votum vom Dienstag nur das liberale Minimum gewesen. 

Peter Feist
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