In Luxemburg gibt es viel zu wenige Pflegefamilien für Kinder in Not. Eine Kampagne soll helfen, neue Anwärter zu finden

Zuhause auf Zeit

d'Lëtzebuerger Land vom 29.04.2016

„Ich habe davon durch meinen Bruder gehört. Er hat auch Pflegekinder.“ Jacqueline Schwinnen* und ihr Mann sind eine von 202 Pflegefamilien, die der Service Pflegefamilien des Roten Kreuzes betreut. Zwei Brüder und eine Schwester hat die Familie zur Pflege. „Es tut gut, zu wissen, dass man helfen kann“, erklärt sie, warum sie neben vier leiblichen Kindern noch Pflegekinder aufgenommen hat. Die Familie im Südosten des Landes ist eine von rund 420 Pflegefami-lien (Verwandte inklusive) in Luxemburg. „Ich wollte mehr Zeit für meine Kinder haben und etwas Neues machen“, beschreibt Schwinnen ihren Wechsel von der Buchhalterin zur Vollzeit-Pflegemutter.

Kinder, die in Pflegefamilien kommen, haben traumatische Erfahrungen hinter sich: Brüche in der Familie, Drogen, Vernachlässigung, Missbrauch, zählt Ines Dias auf. Die Leiterin des Service Placement familial und ihre zehn Mitarbeiter stehen Pflegefamilien mit Rat und Tat zur Seite, kümmern sich um die Auswahl, betreuen Treffen zwischen biologischen Eltern, Pflegeeltern und den Kindern. Im neuen Zuhause blühten viele wieder auf, beschreibt Jeff Weitzel, Direktor des Office national de l’enfance (ONE), die Vorzüge der Pflegefamilie. Weil Kinder dort mehr Zuwendung bekommen können, ihre Entwicklungschancen besser sein sollen, und nicht zuletzt, weil der Aufenthalt weniger kostet, wird im Ausland die Unterbringung in einer Pflegefamilie längst einer Heimeinweisung vorgezogen. Hierzulande dagegen überwiegt die Zahl der Heimeinweisungen deutlich: Sind in Großbritannien rund 80 Prozent aller platzierten Kinder in Pflegefamilien untergebracht, ist es in Luxemburg nur jedes dritte Kind, so eine Statistik des ONE. Erziehungsminister Claude Meisch (DP) will den Trend umkehren und hat deshalb angekündigt, das Angebot der Pflegefamilien ausbauen zu wollen.

Ab Mai soll dafür die Werbetrommel gerührt werden: „Nichts allzu Großes“, sagt Jeff Weitzel; eine neue Internetseite und Werbung an ausgewählten Orten seien geplant. Die Kampagne ist ein Baustein einer Modernisierung des Pflegschaftssystems, die hinter den Kulissen erst allmählich Form annimmt. Eine Arbeitsgruppe im Erziehungsministerium berät derzeit darüber, wie das Instrument der Familienhilfe attraktiver gestaltet werden kann. Ein Rahmengesetz ist im Gespräch. Derweil haben sich die Pflegedienste neu aufgestellt, aus vier Anbietern wurden drei, Arbeitsweise und Auswahlverfahren wurden überdacht. Erklang früher der Vorwurf, manch Pflegedienstleister sei bei der Auswahl zu restriktiv und habe womöglich ein Familienbild vertreten, das in der heutigen Zeit mit hoher Scheidungsrate, Patchwork-Familien, Zuwanderung, gleichgeschlechtlichen und anderen Lebensformen einseitig bis überholt erscheint, betont Ines Dias vom Roten Kreuz Kriterien wie Stabilität und Bindungsfähigkeit: Nur wer sich selbst gut kennt, wer seine eigene Familiengeschichte aufgearbeitet, wer Traumen verarbeitet habe, flexibel und belastbar sei, komme als Pflegemutter oder -vater in Frage. Ihr Dienst verstehe sich vor allem als „Vertreter der Interessen des Kindes“, so Dias.

Die Betonung psychologisch-pädagogischer Kompetenzen erklärt sich aus der Herausforderung, die ein Pflegekind bedeutet: Viele haben Entwicklungsstörungen, sie sind verhaltensauffällig und haben oft jegliches Vertrauen in die Erwachsenen verloren. Manche haben es nie gelernt, Regeln des Miteinanders zu verstehen und zu leben. Die Webseite des Roten Kreuzes zählt als Eigenschaften bei Pflegeeltern „einen respektvollen Umgang mit sozialen Unangepasstheiten“, „keine vorgefassten Ideen über die Entwicklung eines Kindes“ zu haben oder zu „akzeptieren, sich dem Kind schrittweise zu nähern und zu helfen“ auf. Das klingt anspruchsvoll, wirkt aber auch nicht gerade ermutigend. Überhaupt bekommt, wer im Netz nach positiven Berichten von Pflegeeltern sucht, auf Luxemburger Internetseiten eher Tristes vorgesetzt: kompliziertes Verwaltungsfranzösisch, Formulare und Anforderungsprofile. Nirgends ein Zeugenbericht, der die bereichernden Seiten einer Pflegeelternschaft beschreibt, wie es www.pflegekinder-berlin.de oder www.lesfamillesdaccueil.be vormachen. Kein Wunder, dass die Zahl der Bewerbungen in Luxemburg seit Jahren stagniert.

Aber nicht nur die spröde Präsentation ist verbesserungswürdig. Pflegeeltern klagen über zu viel Bürokratie und finanzielle sowie rechtliche Unsicherheit. In einer unveröffentlichten Studie befragte das Familienministerium 2013 81 staatlich anerkannte Pflegeeltern zu ihrer Lebenssituation. 80 Prozent der Befragten äußerten sich prinzipiell zufrieden mit den Pflegedienststellen, doch es gab auch Kritik, etwa an der Finanzierung. „Unser Statut als Pflegeeltern ist nicht klar“, so Dick Okkerman, Präsident der Pflegeelternvereinigung Flek. Bis zu 1 750 Euro erhält die Pflegefamilie pro Kind (inklusive Kindergeld), steuerfrei. Das sei nicht wenig, sagt Jeff Weitzel vom ONE. Wer aber weiß, wie hoch die Lebenshaltungskosten hierzulande sind, dass viele Familien mit Kindern ein Drittel ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben, ahnt, dass die Entschädigung keine großen Sprünge erlaubt. „Für unser Haus haben wir einen Kredit aufgenommen“, sagt Jacqueline Schwinnen. Sie gibt offen zu, dass sie auf den Zuschuss, den sie und ihr Mann für Pflegschaften bekommen, angewiesen sei. „Sonst würde das nicht funktionieren.“

Beim deutschen Nachbarn steht dagegen die ökonomische Unabhängigkeit oben in der Anforderungsliste: Nur wer seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft finanzieren kann, kommt als Pflegemutter oder -vater in Frage. So sollen Härten im Falle, dass ein Pflegekind nicht bleiben kann oder die Pflegschaft abgebrochen wird, vermieden werden. Denn Abbrüche gibt es immer wieder, „vor allem im Alter zwischen neun und 16 Jahren“, weiß Jeff Weitzel, wenn die Pubertät eintrete und sich zu den familiären Problemen noch Hormonschwankungen und Identitätsfindung gesellen. Das erklärt vielleicht, warum viele Pflegeltern eher jüngere Kinder bevorzugen. Tatsächlich finden Kleinkinder schneller einen Platz in einer Pflegefamilie als Jugendliche, und Mädchen deutlich häufiger als Jungen. Auch die Hautfarbe spielt eine Rolle, was insofern diskussionswürdig ist, als Pflegeeltern, quasi mit amtlicher Genehmigung, Wunschkinder benennen dürfen und bestehende gesellschaftliche Diskriminierungen sich dadurch im Pflegefamilienbereich fortsetzen.

Länder wie Österreich unterscheiden deshalb von vornherein in Bereitschafts(laien)pflegeeltern, die – nach einer mehrwöchigen Ausbildung – Kinder in Notsituationen nur übergangsweise aufnehmen, und professionellen Pflegeeltern, deren Betreuungsleistung wie eine hauptberufliche Tätigkeit honoriert wird und die sozialversichert sind. In Deutschland gibt es einen höheren „heilpädagogischen Zuschlag“ für Eltern mit einer einschlägigen Ausbildung im Sozialbereich und mit speziellen Erfahrungen und Kenntnissen, die sie in Fortbildungen vertiefen. Auf sie wird bei hochproblematischen Kindern oder Kindern mit Behinderungen zurückgegriffen.

„Hierzulande gibt es diese Feinheiten nicht. Unser Statut ähnelt dem der Träger, wir haben aber nicht dieselben Rechte“, kritisiert Dick Okkerman. Die 1996 gegründete Flek drängt seit vielen Jahren darauf, die Rechten und Pflichten der Pflegeeltern per Gesetz zu regeln, „um das System zu vereinheitlichen“. Pflegeltern bemängeln, dass zusätzliche Kosten für Fahrten zur Therapie, zur Sozialarbeiterin oder zu den leiblichen Eltern nicht übernommen werden, es keinen bezahlten Urlaub oder Pflegeauszeiten gibt. Familien bekommen die Pflegezeit angerechnet, aber Beiträge in die Rentenkasse zahlt der Staat für sie nicht – obwohl sie für die Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten. „Wer sich für die Pflegeelternschaft entscheidet, tut dies nicht aus finanziellem Anreiz, sondern aus Überzeugung“, sagt Okkerman. Immerhin könnten Pflegekinder eine Familie „ganz schéin op de Kapp geheien“, so der Pflegevater, der selbst zwei „hochproblematische“ Kinder betreut. Neben der Verantwortung für sie tragen Pflegeeltern außerdem Verantwortung gegenüber anderen Familienmitgliedern. „So ein Engagement geht nur mit dem Partner und den Kindern“, betont Okkerman, der die Rolle des Hausmann übernommen hat.

Im Gegenzug für die Aufwandsentschädigung akzeptieren Pflegefamilien, dass ihnen der Staat bei der Erziehung über die Schulter schaut, die einen mit mehr, die anderen ohne Murren. Dass der Staat für ein Agrément bis ins Detail bauliche Maßnahmen vorschreibt, stößt bei Okkerman auf Unverständnis. „Rauchmelder und Feuerlöscher sind wichtig, Weiterbildung auch, aber wir sind keine Crèche“, kritisiert er amtlichen Übereifer. Noch mehr fuchst ihn die ungleiche Behandlung von Pflegeeltern und ihren Kindern, je nachdem wo sie wohnen oder auf welchen Sachbearbeiter sie stoßen: „Es gibt Beamte, da klappt die Zusammenarbeit gut, andere kennen das Gesetz nicht einmal“. Wie könne es sein, fragt Okkerman, dass manch Pflegefamilien keine Chèques-service erhalten, während andere sie zusätzlich zur Aufwandsentschädigung bekommen, und wieder andere die Schecks mit dem Haushaltseinkommen und dem Pflegegeld verrechnen müssen? „Es muss doch möglich sein, in einem Land mit 600 000 Einwohner eine einheitliche Praxis zu haben“, wundert er sich.

Fehlende Vernetzung und Absprachen erleben Pflegeeltern immer wieder. Ihren Beobachtungen zufolge habe das Jugendhilfegesetz vieles zum Besseren geändert, doch noch immer sei „nicht alles auf einander abgestimmt“. Da wird einem Pflegedienst nachgesagt, eher im Interesse des Kindes zu arbeiten, während ein anderer angeblich den Fokus zu sehr auf die Bedürfnisse der leiblichen Eltern setzen würde. Ob wahr oder nicht: Solche Berichte verunsichern potenzielle Bewerber und tragen nicht dazu bei, das Image der Pflegeelternschaft zu verbessern.

Zumal das Verhältnis zwischen Pflegeeltern und leiblichen Eltern heikel ist. Leibliche Eltern, deren Kindern vom Jugendricht eienr Pflegefamillie zugewiesen wurde, verlieren zwar ihr Sorgerecht, haben aber grundsätzlich das Recht, ihr Kind regelmäßig zu sehen. Nicht nur wegen der Gefahr von Konkurrenzgefühlen zwischen biologischen Eltern und Pflegeeltern, sondern vor allem wegen der Kinder, die im schlimmsten Fall in traumatische Loyalitätskonflikte geraten können, erfordert der Umgang mit den unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten viel Behutsamkeit, Respekt und Professionalität. Jacqueline Schwinnen kündigt Besuchstermine der leiblichen Mutter inzwischen nur noch in letzter Minute an: um ihren Pflegekinder das emotionale Auf und Ab zwischen Vorfreude, Angst und Enttäuschung zu ersparen, weil ihre Mutter mal wieder kurzfristig abgesagt hat. „Natürlich wissen wir, dass die Pflege zeitlich begrenzt ist. Aber es bleibt ein Spagat: Einerseits sollen wir den Kindern Stabilität bieten und eine feste Bindung aufbauen. Andererseits schwebt ständig das Damoklesschwert über uns, unser Kind könnte wieder aus der Familie genommen werden“, beschreibt Okkerman den emotionalen Balanceakt. Flek setzt sich dafür ein, präziser zu bestimmen, ab wann ein Kind von einer Kurzzeitpflege in eine Langzeitpflege wechselt – und welche erweiterten Rechte damit für die Pflegefamilien verbunden sind.

Auch das diskutieren die Experten der Arbeitsgruppe, die sich monatlich im Ministerium trifft. Im Juli soll ein erstes Zwischenfazit gezogen werden, man werde das Vorgehen „mit allen Akteuren abstimmen“, verspricht Fernando Ribeiro, Leiter der Kinderhilfeabteilung im Erziehungsministerium. Spätestens dann sollten die Verantwortlichen auch die Pflegeeltern (und warum nicht ältere oder ehemalige Pflegekinder?) einbeziehen. Vor zwei Jahren waren Vertreter der Flek ins Ministerium eingeladen worden, um über Doléancen und Verbesserungsvorschläge zu reden. „Seitdem haben wir nie wieder etwas davon gehört“, sagt Okkerman.

* Name von der Redaktion geändert
Ines Kurschat
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