Samstag, 5. Februar – In Reims leert sich ein Reisebus nach dem anderen. Ihr Inhalt: miesgelaunte Rentnerinnen, sporadisch ein paar Dorfkinder und Damen, die eine Fahne aus Parfüm und Zigarettenrauch nach sich ziehen. Was auch die Klientel der Päischtcroisière sein könnte, ist in dem Fall Marine Le Pens Wählerschaft. Die Präsidentschaftsanwärterin hält ihr erstes großes Wahlmeeting. Etwa 3 000 Anhänger sind aus ganz Frankreich hergereist, um auf einer Art Kirmes mit Bratwurst und Weißwein die Kandidatin des Rassemblement National zu begaffen.
Die Stimmung ist dezent peinlich, aber zumindest wird man als Journalist nicht angepöbelt wie bei ihrem rechtsradikalen Konkurrenten Éric Zemmour. Nur einmal kommt eine Besucherin mir näher als gewollt: Aus ihrer Tasche kramt sie Wachsfarben in blau, weiß und rot heraus, um mir die Wangen zu beschmieren: „In Luxemburg tragt ihr doch die gleichen Farben!“, argumentiert die rechtsextreme Sympathisantin, nachdem ich freundlich ablehnte.
Im Vergleich zu Éric Zemmours Wahlveranstaltung in Villepinte, der mehr als dreimal so viele Rechtsextremisten mobilisieren konnte, sind die Meetings von Marine Le Pen ein gähnendes Unterfangen. Die Frankreich-Fahnen werden nicht mehr ganz so hektisch geschwenkt, die Parole „On est chez nous“ klingt etwas träger und die Marseillaise ertönt mit weniger Herzblut, als am vergangenen Sonntag beim Wahltreffen des Präsidenten Emmanuel Macron.
Auf die Frage, warum die Besucher ausgerechnet Marine Le Pen unterstützen und nicht den frisch-gebackenen Essay-Kandidaten Éric Zemmour, lautet die Antwort quasi immer gleich: „Wir haben schon 2012 und 2017 für sie gestimmt, warum sollten wir nun jemand anderes wählen.“ Die Rechtsextremistin hat dieses Jahr die langweiligste Wahlkampagne in der fünfzigjährigen Geschichte ihrer Partei geführt – und wohl auch die beste.
Während der Showstar Éric Zemmour eine Polemik nach der anderen hervorzauberte, hielt sich Marine Le Pen von Medien möglichst fern. Beide rechtsextreme Kandidaten haben zum Beispiel über Monate die Möglichkeit eines russischen Invasionskriegs in der Ukraine ausgeschlossen. Die Kandidatin des Rassemblement National ließ Ende Februar sogar über eine Million Wahlbroschüren mit einem Foto von sich und Wladimir Putin drucken. Das Bild ist durch den Ukrainekrieg schlecht gealtert, daher beschloss die Partei, ein Großteil der Broschüren zu schreddern.
Logischerweise müsste solch eine geopolitische Fehleinschätzung von Marine Le Pen das Fortsetzen ihrer Wahlkampagne lächerlich erscheinen lassen. Doch indem sie seit Ausbruch des Krieges möglichst ruhig bleibt und Éric Zemmour in seinen Interviews von einem Fettnäpfchen in das nächste stapft, kann sie sich trotz ihrer Nähe zum russischen Despoten wacker schlagen. Ein weiteres Mal erweist sich Éric Zemmour als nützlicher Idiot.
Nachdem der rechtsradikale Kolumnist im November seine Kandidatur ankündigte, wurde seine Partei Reconquête zum Sammelsurium der „Nazis“, für die der Rassemblement National nicht mehr radikal genug sei, sagt Marine Le Pen selbst. Der RN hat wichtige Mitglieder an Éric Zemmour verloren: den Anwalt Gilbert Collard, ihre Nichte Marion Maréchall und sogar ihren Vater und Gründer des Front National, Jean-Marie Le Pen. Trotzdem setzte Marine Le Pen ihren Wahlkampf fort, als würde der ergraute Essayist ihr keine Million Wähler abziehen.
Durch den Rückzug der „Nazis“ aus dem Rassemblement National beschleunigte sich der Entextremisierungs-Prozess der Partei. Neben Éric Zemmour erscheint Marine Le Pen plötzlich als die rationalere Rechtspopulistin – als wählbar.
Die Rechtsextremistin selbst musste im Wahlkampf nicht mehr dafür sorgen, Migrations- und Identitätsfragen in die öffentliche Debatte zu schleusen, denn dafür sorgte bereits der ehemalige Essayist. Im Gegensatz zu ihm, mied sie das Rampenlicht und bevorzugte Besuche in entlegenen Dörfern. Zu großen Fernseh- und Radiosendern schickt sie ihre Parteileute wie Jordan Bardella, Sébastien Chenu oder Laurent Jacobelli. Einzel-Interviews gibt die Kandidatin fast ausschließlich der lokalen Presse und präsentiert sich so erfolgreich als Bürgermeisterin Frankreichs, wohingegen Éric Zemmour sich als eine Reinkarnation der Monarchie inszeniert.
Nicht nur zeigt die Rechtspopulistin sich dieses Jahr so volksnah wie nie zuvor, auch setzt sie den Schwerpunkt seit Beginn auf das richtige Thema: den „pouvoir d᾽achat“. Diverse Meinungsforschungsinstitute haben seit September herausgefunden, dass die Zukunft der Sozialversicherung und die schwindende Kaufkraft den Franzosen am meisten Sorgen bereiten – weitaus mehr als Migrationsfragen. Nichtsdestotrotz bleibt das Wahlprogramm des Rassemblement National für Ausländer und Geflüchtete ebenso fatal wie vor fünf Jahren, wie Untersuchungen der Jean-Jaurès-Stiftung zeigen.
Viele Politologen schließen daher nicht aus, dass Marine Le Pen in den Elysée-Palast einziehen könnte. Aktuellen Umfragen zufolge trennen sie und Staatschef Emmanuel Macron nur drei Prozentpunkte im zweiten Wahlgang, falls beide am Sonntag durch die erste Runde kommen.
So knapp war es zwischen den beiden noch nie. Je nachdem wen die Verlierer-Kandidaten der ersten Wahlrunde unterstützen, kann sich Le Pens Wahlergebnis sogar verbessern. Éric Zemmour hat vergangene Woche angedeutet, dass er die Rechtspopulistin unterstützen werde, falls es zu einem erneuten Duell zwischen ihr und Emmanuel Macron kommen sollte. Valérie Pécresse und Jean-Luc Mélenchon haben sich diesbezüglich nicht geäußert und es wäre sogar wahrscheinlich, dass beide ihre Wählerschaft nicht explizit dazu aufrufen werden, am 24. April für Emmanuel Macron zu stimmen. Nach den Präsidentschaftswahlen von 2002 und 2017, als Jean-Marie Le Pen und seine Tochter in die Stichwahl gelangten, scheint es dem sogenannten „Front républicain“ an Motivation zu fehlen. Frankreich war noch nie so kurz davor, eine Rechtspopulistin in den Elysée zu wählen.