Theater

Die Partitur des Bertolt Brecht

d'Lëtzebuerger Land du 15.11.2019

Wer sich diese siebzig Minuten antut, lernt Brechts Baal nicht kennen. Zumindest nicht so, wie es sich der jugendliche Bertolt in den Jahren 1919 und 1920 vorstellen mochte. Wer diesen Theaterabend unter der Regie von Julia von Sell erlebt, mag sich an Brechts plastischem, pointiertem Vokabular laben und den metrischen Puls des Dramas fühlen. Die inhaltliche Dramaturgie über diesen asozialen Dichter Baal, der sich in seiner Gier jeder bürgerlich-romantischen Dichtervorstellung widersetzt und stattdessen „Weiber füllt und Flaschen leert“, verkommt an diesem Abend am TNL zur Nebensache.

Baal ist die finanzielle Unterstützung seines Mäzens Mech völlig gleich. Er metzelt seinen Freund Ekart nieder und verreckt schließlich als gesellschaftliche Ratte in Brechts 24 Szenen und Bildern, die er vierfach im Verlauf seiner Dichterexistenz überarbeitete. Sprecher Thieme trägt die zahllosen Figuren der eigens erarbeiteten Vorlage jedoch zu undifferenziert vor. Nur selten entlarvt ein Dialekt oder hilft ein Eigenname auf die Sprünge. Der Zuschauer kann der Logik des Texts so nur sporadisch folgen. Darüber ist Thomas Thieme sich im Klaren und führt den Inhalt des Texts samt Entstehungsgeschichte vor dem Auftritt in groben Zügen ein.

Thomas Thieme (1948), gebürtig aus Weimar und Schauspieler des Jahres 2000 laut Theater heute, präsentiert Baal in gemeinsamer Arbeit mit seinem Sohn, dem Bassisten Arthur Thieme. In dieser Konstellation wird Programm, was der Senior über den Augsburger Dichter sagt: „Brecht ist Musik“.
Auf diese Charakteristik zielen Vater und Sohn in doppelter Manier ab.

Einmal spricht dafür – ganz offensichtlich – die E-Bassgitarre. Arthur Thieme führt den Textvortrag mit einer sehr atmosphärischen Melodie aus tiefsten Tönen ein, begleitet die Worte stellenweise mit aufschreckendem, hämmerndem Slapping, hin und wieder mit nervenaufreibendem Kratzen, indem er ein Bund Stahlsaiten an den aufgezogenen Saiten des Instruments entlangreißt. Sein Spiel bereichert Brechts Worte zweifellos. Auch die Momente des A Capella sind ästhetisch sinnvoll: Der Sohn spricht die Worte des Vaters im Echo. Allerdings befremdet das dünne Stimmchen Arthur Thiemes teilweise und treibt den Bombast des Vaters etwas ins Lächerliche. So mancher Zuschauer wird sich dabei gedacht haben: Bleib bei deinem E-Bass!

Die Stimme des Vaters jedoch verpasst dem Text einen sehr vergleichbaren Grad an Musikalität: Thomas Thieme steigt sehr körperlich in den Vortrag ein, presst, keucht und hustet den Baal aus seinen mächtigen Eingeweiden über die belegten Stimmbänder ins Mikrofon. Da ist nichts schön, aber brachial, präsent und leidenschaftlich. Bei jedem neuen Einstieg stemmt er seine Schuhe zwischen die Füße des Rednerpultes, hebt die Schultern zur Entspannung und schwenkt die Handgelenke dirigierend durch die Luft. Thomas Thieme lebt diesen Asozialen, dieses Scheusal, deklamiert nie verkopft, stets anarchisch. Aufreibend klingen die Lieder, die Thieme singt, ohne singen zu können. Seine Stimme dünnt in höhen Tönen derart aus, dass unerträglich sein müsste, was bewegend klingt. Dieses naturhafte Erzwingen einer Tonreihe ist nicht von Talent, sondern von Echtheit geprägt.

Wer das Oberlehrerhafte des Bertolt Brecht mag und dieses Jugendwerk entdecken wollte, der verlässt diesen kurzen Theaterabend enttäuscht und völlig unbefriedigt. Thieme gewährt wenig Einblick in die Dramaturgie und Aussage des Texts. Der Zuschauer vermag nicht einmal zwischen den Figuren zu unterscheiden. Wer sich allein auf den Klang und die Leidenschaft eines Künstlerduos konzentrieren möchte, das Brechts lexikalische Musikalität in den Fokus rückt, für den ist die konzertante Aufführung Baal aus dem Programm des Augsburger Brechtfestivals ein Gewinn.

Baal von Bertolt Brecht; eine Produktion des Augsburger Brechtfestivals; Regie von Julia von Sell; mit Thomas Thieme und Arthur Thieme; wurde letzte Woche im Théâtre national aufgeführt; keine weiteren Vorstellungen in Luxemburg.

Claude Reiles
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