American Football: Von der Schulbank in den Super Bowl

Ein Stück US-Kultur

d'Lëtzebuerger Land vom 01.02.2019

Der Super Bowl, wie das Finale um die Meisterschaft in der US-amerikanischen National Football League (NFL) genannt wird, findet traditionell jedes Jahr am ersten Sonntag im Februar statt und stellt eines der größten Events im Weltsport dar. Dabei wurde American Football im Vergleich zu den anderen großen amerikanischen Sportarten Baseball, Basketball und Eishockey außerhalb Nordamerikas lange Zeit kaum rezipiert. Obwohl American Football auch nach wie vor in erster Linie in den USA praktiziert wird, hat sich der Super Bowl in den letzten Jahren neben den Endspielen um die Fußballwelt- und Europameisterschaft der Männer und dem Hundert-Meter-Lauf der Männer bei den Olympischen Spielen zu den populärsten Sportveranstaltungen der Welt entwickelt.

Nicht zuletzt dank dem Export der US-amerikanischen Populärkultur, vermittelt über Fernseh- und Kinoproduktionen und beschleunigt durch das Internet und die sozialen Medien, hat der American Football ab den 1990-er Jahren insbesondere in Europa kontinuierlich Fuß gefasst. Seit 2007 wird jährlich ein Spiel der Regular Season der NFL in London ausgetragen, ab kommenden Jahr sogar vier Spiele. Der Popularität des American Football hat diese Expansionsstrategie zu einem Schub verholfen: Im deutschsprachigen Raum beispielweise hat sich mit der ProSiebenSat.1 Media SE einer der größten Medienkonzerne überhaupt die Übertragungsrechte gesichert – ein Zeichen dafür, dass es sich bei dieser Sportart längst nicht mehr um ein Nischenprodukt handelt.

Während die NFL in Europa auf immer größere Aufmerksamkeit stößt, hat sich um die Übertragung des Super Bowl eine ganz eigene Dynamik entwickelt. In den USA ist der so genannte Super Bowl Sunday eine Art nationaler Feiertag. Aber auch in Europa werden zunehmend „Super-Bowl-Partys“ organisiert, bei denen das gemeinsame Verfolgen des Spiels regelrecht zelebriert wird. Dabei wird der American Football zum Inbegriff der US-amerikanischen Kultur stilisiert, im Verbund mit dem Konsum „typischer“ Speisen, wie Chicken Wings oder Hot Dogs. So wird die Sportveranstaltung zu einem Event konstruiert, bei dem der Konsum einen zentralen Stellenwert einnimmt.

Diese Inszenierung einer imaginierten US-amerikanischen Kultur beruht im Wesentlichen auf einem Bild, das in Europa über die aus den Vereinigten Staaten stammende Film-, Fernseh- und Musikindustrie verbreitet wurde. Im Kontext des Kalten Krieges stellte dieser Export einen wesentlichen Bestandteil der imperialistischen amerikanischen Soft Power dar, die im apolitischen Gewand ein grob vereinfachtes Bild der US-Kultur in die Welt hinaus trug.

Dabei ermöglicht gerade die Auseinandersetzung mit dem Phänomen American Football eine kritische Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Gesellschaft, jenseits des Klischees vom American Dream. Im Gegensatz zum europäischen Fußball sind die US-amerikanischen Sportarten rigide mit dem Schulsystem verbunden. Eine Karriere als Profisportler setzt fast zwingend eine vorhergehende schulische Laufbahn von der Primary School über die High School und schließlich das College beziehungsweise die Universität voraus. Das ermöglicht einerseits Schülern aus sozioökonomisch benachteiligten Schichten auf Grundlage ihrer sportlichen Fähigkeiten einen Schulabschluss im elitär ausgerichteten US-amerikanischen Bildungssystem zu erlangen. Andererseits zwingt es auch gute Sportler, ein Mindestmaß an schulischen Leistungen zu erbringen. So erscheint das System als gewinnbringend für alle Beteiligten – natürlich abgesehen von den sozial benachteiligten Schülern ohne sportliche Fähigkeiten.

Allerdings reproduzieren sich die Ungleichheiten, die der amerikanischen Gesellschaft zugrunde liegen, auch innerhalb des Schul-Sport-Komplexes. Während im Bildungssystem die sportliche Ausbildung der jungen Talente intensiv gefördert wird, liegt die Entscheidungshoheit für die Selektion von Nachwuchsspielern in die Kader der Profiteams letztendlich bei deren Besitzern und den Funktionären der NFL. Die größten Chancen haben Absolventen der Elite-Institutionen. Die meisten Spieler, denen der Sprung in die Weltspitze gelingt, sind in sozioökonomisch gut situierten Verhältnissen aufgewachsen. Dagegen erweist sich für den Großteil der Studenten die Möglichkeit, über den Sport einen sozialen Aufstieg zu schaffen, als Mythos. Gerade für Kinder aus benachteiligten Regionen sind die Aussichten auf eine Karriere als Profisportler weitaus geringer. Zurückzuführen ist das nicht zuletzt auf strukturelle Eigenheiten des Bildungssystems, in dem der Zugang zu den renommiertesten Schulen in direktem Zusammenhang mit Herkunft und Status steht. Es liegt aber auch an den sich gegenseitig verstärkenden gesellschaftlichen Konfliktlinien zwischen Klassen und was man im englischen Sprachgebrauch als race bezeichnet. Zwar ist gerade im Sport der Einfluss der afroamerikanischen Bevölkerung vergleichsweise groß. Das ist zugleich aber auch ein Zeichen dafür, dass ihre Repräsentation in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft nach wie vor in keinem Verhältnis zum Bevölkerungsanteil steht. Afroamerikaner, die ihren Lebensunterhalt mit ihrer sportlichen Tätigkeit verdienen können, sollen sich denn auch primär auf die Ausübung ihres Sports konzentrieren.

Bezeichnend ist der Fall des (ehemaligen) Star-Quarterback Colin Kaepernick. Aus Protest gegen Polizeigewalt, die insbesondere junge Afroamerikaner in den USA erfahren, kniete sich der damals noch bei den San Francisco 49ers Aktive bei einem Trainingsspiel am 14. August 2016 während der traditionell vor jedem Spiel angestimmten Nationalhymne hin. Viele weitere, insbesondere afroamerikanische Profisportler folgten Kaepernicks Beispiel, und so hat sich diese Form des Protests in der Folge bei diversen Sportveranstaltungen in den USA etabliert. Die Geste wurde zum Symbol für eine zerrissene Gesellschaft, in der Afroamerikanern nach wie vor die Rolle der Subalternen aufgezwungen wird.

Während der Protest Kaepernick weltweit berühmt machte, bedeutete er jedoch zugleich das Ende seiner Football-Karriere, denn die Aktion wurde von vielen Funktionären, Teambesitzern und Fans als Verletzung des Nationalstolzes aufgefasst. Gerade im American Football sind konservative Elemente der Gesellschaft stark verankert – auch in den liberalen Hochburgen im Westen und Nordosten der USA. Der Besitzer der in Boston ansässigen New England Patriots, Robert R. Kraft, ist beispielsweise ein Unterstützer von US-Präsident Donald Trump. Dieser beleidigte die protestierenden Sportler am 22. September 2017 bei einem öffentlichen Auftritt in Alabama als „Sons of bitches“.

So zeigt sich auch im für das kulturelle Selbstverständnis der USA so wichtigen American Football die tiefe Zerrissenheit des Landes, die mitunter auf die großen Ungleichheiten innerhalb der Bevölkerung der einst als „Melting Pot“ gepriesenen Vereinigten Staaten zurückzuführen ist. Während diese gesellschaftlichen Konflikte beim Super Bowl eine ebenso untergeordnete Rolle spielen wie bei einer Fußballweltmeisterschaft, kann man das Interesse an diesen global bedeutsamen Sportereignissen nutzen, um auf derartige Konflikte aufmerksam zu machen.

Charles Wey
© 2024 d’Lëtzebuerger Land