Wie man’s nimmt: Der Dekalog der Angst überfordert oder überzeugt den Zuschauer mit einer multilingualen Reise durch die europäische Literatur

Stimmungsbilder, die bleiben

d'Lëtzebuerger Land vom 03.02.2023

Zugegeben, anfängliche Skepsis überschlägt sich an diesem Abend in Unmut, der sich gegen die Tatsachen auf der Bühne richtet: Das erinnerte schon etwas an ein Tennisspiel. Das gesamte Publikum muss den Nacken notgedrungen wahlweise zum linken oder rechten Bildschirm wenden, um die gerafften Untertitel zu Texten diagonal zu lesen, die vom Altgriechischen über das Russische hin zu Deutsch und Bulgarisch reichen. Was in der Oper minütlich geschieht, schießt hier ständig über die Mattscheibe, und das ästhetische Bühnengeschehen verweigert sich zu sehr dem Blick. Es ist ein anstrengendes Hin und Her.

TNL-Dramaturg Florian Hirsch tritt leider verfrüht im Studio des Hauses vor die ersten Gäste der Abendvorstellung Dekalog der Angst, um sie auf die bevorstehenden Herausforderungen einzustimmen und manche Hintergründe des europäischen Projekts „Catastrophé“ zu liefern. In diesen Minuten flüstert mir eine Zuschauerin zu, man müsse sich wohl eher auf einen Theaterabend der „europäischen Sprachmelodie“ einlassen. Diese flüchtige Bemerkung erweist sich in der Folge als Puzzlestück zum Genuss. Und senkt das Risiko einer Nackenverspannung.

Zehn Darstellerinnen und Darsteller aus Griechenland, Luxemburg, Portugal, Bulgarien und weiteren Ecken des Kontinents verkörpern zehn Textauszüge von Tschechows Tschaika (Möwe) und Caldérons La vida es sueno (Das Leben ist ein Traum) über Platons Apología Sokrátous (Die Apologie des Sokrates) bis hin zu Büchners Dantons Tod und Heiner Müllers Der Auftrag in zehn unterschiedlichen Sprachen, und dies nicht einmal konsequent in ihrem jeweiligen Original. Zwischen diese Szenen mischen sich noch Lieder von Sophokles, Dostoejewski, T.S. Eliot und Ani Ilkov.

Überfordert? Fraglos klingt diese Aufzählung in ihrer Masse nach heftiger Reizüberflutung. Doch lässt man sich auf die Produktion ein, verlässt man seine gewohnte Komfortzone, lässt man die Sprache erklingen, anstatt sie vollends zu verstehen, ergibt sich ein ungemein verdichtetes, ästhetisches Theaterbild mit bewegenden dramaturgischen Momentaufnahmen.

Sämtliche Texte sind durchzogen von unterschiedlichen Schattierungen der Angst. Sei es die Angst vor der Hinrichtung, vor Krieg, der Inquisition oder der schrillen Furcht vor einem kafkaesken Bürogebäude, durch das ein grell blitzender Aufzug schießt. Die ständige Furcht, das Geschrei der Darsteller, der Wirrwarr von europäischer Sprachvielfalt rufen Emotionen der Panik, der Hektik, des räumlichen Irrens auf.

Diese erdrückende Atmosphäre vertieft Elena Ivanova mit ihrer Bühne. Drei Fensterrahmen mit Vorhängen ragen hintereinander aus dem Bühnenboden. Am letzten hängt ein Galgen. Den Boden säumen befüllte Gabionen, mit alten Decken belegt. Und alles wirkt irgendwie verstaubt, verschlissen. Ein hohler Baumstumpf liegt am Boden herum. Dieselbe Kulisse ist in ihrer Einfachheit Schauplatz für mehrere Auszüge europäischer Literatur. Erweitert wird das Bild durch die hintere Mauertreppe, um die Traumwelt der Sprechenden und Flashbacks ins Leben zu rufen. Eingetaucht wird der Raum in eine intensive Licht- und Tontechnik. Die Dramaturgie von Florian Hirsch und die Regie von Margarita Mladenova und Ivan Dobchev sorgen für mehrere ästhetische Bühnenmomente.

Die rhetorische Wucht der Darsteller/innen trägt ihres zu diesem Stimmungsbild bei, selbst wenn man die Sprache nur in Teilen durchdringt. Mit unter anderem Dennis Boyer, Aleksandra Corovic, Konstantinos Hadjisavvas bilden sich Szenen heraus, die im Zusammenspiel der einzelnen Theaterelemente Eindruck hinterlassen. Vielleicht aber ist gerade dann der Dekalog der Angst am ergreifendsten, wenn sich das gesamte Ensemble schauerlich-schön in verschlissenen Stoffen, weiß geschminkten Gesichtern und schwarz getuschten Augen schweren Schrittes über den Bühnenboden schiebt und Lieder singt, so etwa – herrlich! - den Chor aus Sophokles‘ Antigone.

Der Dekalog der Angst ist eine dramaturgische Zumutung für Zuschauer, die sich dem Theater über gewohnte Pfade nähern möchten. Fraglos darf man diese Produktion entnervt ablehnen. Wer sich aber aus seiner Komfortzone wagt und mit den Gewohnheiten des Theaters bricht, wird mit einem intensiven Theaterprojekt in Bild und Ton belohnt, so sehr der europäische Turm von Babel auch überfordert. Das TNL hat auf jeden Fall wieder ein ästhetisches Wagnis unternommen. Ob mit Erfolg oder nicht, das liegt im Auge des Betrachters.

Dekalog der Angst mit Texten von u.a. Platon, Eliot und Büchner; Regie von Margarita Mladenova und Ivan Dobchev; Dramaturgie von Florian Hirsch; Musik von Hristo Namliev; Bühnenbild von Elena Ivanova; Bildtechnik von Boyan Feradjiev; mit u.a. Danis Boyer, Bilyana Georgieva, Maria Karamitri und Daniel Pinto. Co-production: Theatre Laboratory Sfumato / Théâtre National du Luxembourg

Claude Reiles
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