To do Ognyan Darinov besitzt eine Liste. Er hat sie während des Lockdowns erstellt und sie enthält Dinge, die er erleben will, bevor er Luxemburg verlässt. Noch weiß er nicht, ob er alle Ziele erreichen kann, aber er ist froh immerhin schon drei Aufgaben erledigt zu haben. Auf einem Post-it, noch nicht abgehakt, steht: „I WILL celebrate my 21st birthday with my friends.“
Eine Woche vor Ognyans Geburtstag wurde Luxemburg unter Lockdown gesetzt. Seitdem schien die Zeit für den Studenten aus Bulgarien, der zum Bachelorstudium nach Luxemburg gezogen ist, gleichzeitig still zu stehen und viel zu schnell zu vergehen: Arbeit, Freizeit und Schlaf gingen nahtlos ineinander über, waren, genau wie seine Emotionen, irgendwann nicht mehr klar auseinanderzuhalten. Die Flure, die in seinem Studierendenwohnheim kleine 500-Euro-Appartments miteinander verbinden, sind leergefegt. „Ich habe während mehr als gut einem Monat kein richtiges menschliches Gesicht gesehen“, erinnert sich Ognyan. Er hätte das nie gedacht, aber das Verlangen nach menschlichem Kontakt im realen Leben kann gewaltig sein: „It really fucks with you!“
Aus einem akademischen Blickwinkel nennt der Englisch-Student das Sommersemester 2020 einen Erfolg – er hat seine Bachelorarbeit hinter verschlossenen Türen fertig geschrieben, seinen angestrebten Schnitt erreicht und sich erfolgreich für einen Masterstudiengang beworben. Aber der Lockdown hat dennoch seine Spuren hinterlassen: „Professionell geht es mir gut, aber emotional und physisch möglicherweise nicht mehr.“
Existenzängste Je nachdem, in welchen Kreisen man die Ohren spitzt, haftet dem Ausdruck des „Studentenlebens“ etwas mehr als nur leicht schmarotzerhaftes an. Feiern statt studieren. Immun gegen diesen Vorwurf sollten jene Student/innen sein, die arbeiten müssen, um sich ihre Existenz zu sichern. Ein Viertel aller Luxemburgischen Student/innen jobben laut einer Studie des Statec im Jahr 2015, um sich ihr Studium zu finanzieren. Von denen, die für ihre Weiterbildung in Luxemburg geblieben sind- also theoretisch eher an der Hauptausgabe Miete sparen könnten - sind es sogar über ein Drittel. Ein großer Teil dieser klassischen Jobs - oft Nachhilfekurse, HiWi-Stellen an der Universität und Kellnerjobs - sind durch die Social Distancing Regelungen von heute auf morgen verschwunden. Und mit ihnen eine der Lebensgrundlagen vieler Studenten, die auf ihr Einkommen angewiesen sind.
Besonders viele Studenten haben sich Mitte März bei der Acel gemeldet, erinnert sich Sven Bettendorf, Präsident des Dachverbandes der Studentenorganisationen Acel. Befristete Arbeitsverträge, wie sie bei Studierenden besonders beliebt sind, seien oft kurzfristig und ohne Diskussion gekündigt, entsprechende Löhne einbehalten worden. Betroffene Studenten können das zwar theoretisch anfechten, realistisch ist dies jedoch selten, erklärt Bettendorf: „Natürlich ziehen die einzelnen Studenten in diesen Situationen meist den Kürzeren. Insbesondere in einer finanziellen Notlage will man sich die Chancen auf einen zukünftigen Vertrag beim ehemaligen Arbeitgeber nicht durch Streitereien verderben.“ Es ist, wie so oft, ein Problem des Machtgefälles. Gemeinsam mit den Hochschulministerium hat die Acel Student/innen, die einen Einbruch ihres Einkommens erlitten haben, eine kurzfristige finanzielle Hilfe von 1 000 Euro auf die Beine gestellt, die Hälfte davon in Form eines Darlehens. Rund 65 Prozent der Studierenden, die arbeiten um sich ihr Studium zu finanzieren, verdienen unter 500 Euro im Monat. Der Staat deckt damit also durchschnittlich etwa zwei Monate Einkommensverlust.
Wie es danach auf dem Arbeitsmarkt weitergehen wird ist für Studenten wohl mindestens genau so unklar wie für alle, deren Job dem Virus zum Opfer gefallen ist. Die regulären Studienbehilfen, die beim Cedies beantragt werden können, werden um ein Semester verlängert, um Kosten verlängerter Studien abzufedern. Weitere Anpassungen fordert die Studenenorganisation Unel allderings bei Härtefall-Anfragen, da nicht abzusehen ist, ob sich die Langzeitfolgen des Virus auf ein Semester beschränken werden. Die Universität Luxemburg hat unterdessen über 100 Student/innen den durch Spenden finanzierten Hardship Fund genehmigt, sowie an rund 150 Studis Essens-Gutscheine verteilt.
Isolation Laut einer grenzüberschreitenden Studie der Columbia University leiden etwa 35 Prozent der Studenten/innen während ihres Studiums mindestens einmal akut unter einer psychologischen Erkrankung. Vor allem Depressionen und Angststörungen sind weit verbreitet. Wie diese Zahlen sich während der Corona-Krise entwickelt haben, weiß noch niemand. Soziale Isolation, wie sie Ognyan und viele andere Studenten erleben, ist selbst noch keine solche psychische Störung präzisiert Prof. Dr. Claus Vögele, ausgebildeter Psychotherapeut und Leiter der Forschungsgruppe Self-regulation and health an der Universität Luxemburg. Sie kann jedoch dazu beitragen, dass sich Störungen entwickeln, insbesondere innerhalb von Risikogruppen, die auch unter normalen Bedingungen bereits häufiger betroffen sind. Vor allem Studierende, die während des Lockdowns nicht in ihrem Heimatland waren, fühlen sich oft gestrandet. Der Student Service (Seve) und das Office of psychologic support unter Irmgard Schröder der Uni Luxemburg hat in kurzer Zeit das Angebot für psychologische Betreuung für Studierende und Mitarbeiter der Universität so schnell wie möglich ausgebaut. „Die Nachfrage war definitiv größer, als zu Non-Covid Zeiten“, erklärt Dr. Vögele im Zoom-Interview. „Während es durchaus eine Herausforderung war, haben wir uns nicht überwältigt gefühlt, vor allem weil wir in ein bestehendes nationales System eingenistet sind und viele freiwillige Hände geholfen haben.“ Dennoch: Jede Krise offenbart Schwächen im System, und Beratung auf freiwilliger Basis kann keine dauerhafte Lösung sein. „Die Uni wird in Zukunft in diesem Bereich noch professioneller werden müssen. Covid wird irgendwann vorbei sein, doch die nächste Krise wird kommen.“
Eigentlich richten sich Angebote wie uMatter des Seve und die psychologische Betreuung der Universität genau an Studenten wie Ognyan, aber es ist nicht immer einfach, diese Hilfe zu vermitteln: „Ich habe von dem Angebot gehört, aber nicht darauf zurückgegriffen.“ Er wusste ja, dass sein Problem darin besteht, dass er gerade niemanden face to face sehen kann. „Deshalb habe ich nicht das Gefühl, dass die psychologische Beratungsstelle mir weiterhelfen könnte“, erklärt Ognyan und fasst damit wohl die Gedanken vieler isolierter Personen zusammen.
Zögern, Beratung aufzusuchen, ist weit verbreitet, bestätigt Johanna West, die beim Student Services Office arbeitet: „Es ist ein schwerer Schritt, man soll sich einem Fremden anvertrauen, über persönliche Dinge reden. Das ist nicht einfach.“ Diese Hemmschwelle wird ausgerechnet durch die Digitalisierung – der so oft nachgesagt wird, dass sie Isolation eben hervorrufe – gesenkt, sagt Dr. Vögele: „Viele Menschen fühlen sich in Online-Sitzungen weniger entblößt und sind eher bereit, sich auf diesem Wege bei uns zu melden. Der Mythos, dass Therapiesitzungen immer in direktem Kontakt stattfinden müssen ist schlicht falsch. Die Pandemie ist eine Lernerfahrung für uns alle, und es hat gewaltige Fortschritte im Bereich der digitalen psychologischen Betreuung gegeben. Wir werden weiter in diese Richtung arbeiten.“ West präzisiert: „Oft nehmen die Sitzungen dabei nur die Form eines entspannten Gespräches an. Alleine das kann bereits helfen, Ängste zu reduzieren.“
Zur Prävention empfiehlt das Team der Universität, Routinen beizubehalten und den Tag in definierte Segmente einzuteilen: Man kann nicht in der Vorlesung um 10 Uhr morgens sein? Dann sollte das dieses Zeitfenster zur Arbeit am Pult genutzt werden. Physische Aktivität ist eine der besten präventiven Aktivitäten gegen mentale Probleme überhaupt. Und frische Luft kann Wunder wirken. „None of this is rocket science, common sense approaches work“, sagt Dr. Vögele. Es geht nicht zwangsläufig immer darum, die Wurzel des Problems zu entfernen, oft ist das gar nicht möglich. Aber man kann sich immer die Frage stellen, was einem hilft, sich im Hier und Jetzt besser zu fühlen. Es ist absolut okay, sich einfach mit einem Film abzulenken, wenn die Gedanken im Kreis drehen.
Der bürokratische Sumpf Die Sorgen vieler Student/innen sind jedoch nicht auf Finanzen und Isolation beschränkt, sondern sind auch organisatorischer Natur. Vicky Reichling, Präsidentin der Unel, hat festgestellt, dass viele Studenten/innen sich nicht nur Gedanken darüber machen, dass der Wert ihres Abschlusses unter dem Ausnahmezustand leiden könnte, sondern sich auch nicht sicher sind, was sie noch genau machen müssen, um diesen zu erhalten. Die Selbstorganisation des Studiums ist ohnehin für viele Studenten eine Herausforderung, die durch – je nach Uni - kafkaeske Bürokratie des Systems nicht vereinfacht wird. Vor allem beim für Luxemburgische Student/innen verpflichtenden Erasmus-Semester stellen sich Fragen, auf die momentan niemand so wirklich eine Antwort hat. Was passiert, wenn ich als Student/in mein oft kostspieliges Auslandssemester abbrechen musste? Wird das Semester anerkannt, oder muss ich die verbleibende Zeit nachholen? Viele Studierende heben sich das Auslandssemester für das Ende des Studiums auf, wissen nun also nicht wie es weitergeht.
Auch Student/innen, die fest im Ausland studieren, betont Reichling, sind von Unsicherheit betroffen. Die kurzfristige quasi-Schließung der Grenzen nach Deutschland zeigt, wie schnell die Situation kippen kann. Vor allem Student/innen, die sich in den USA weiterbilden wollten, überdenken diese Entscheidung. Das Brexit-Chaos, das durch die Coronakriese noch intransparenter wurde, lässt die Aussicht auf ein unkompliziertes Studium in englischsprachigen Raum düster aussehen. Dabei ist die Landesgrenze oft nicht die letzte Hürde. Bettendorf berichtet von drei Universitäten, die luxemburgische Studierende ohne vorherige Selbstquarantäne nicht in die Gebäude der Universität lassen wollten. Andere setzen unterdessen einen Corona-Test voraus, obschon dieser für die Einreise ins Land nicht nötig war. Solche oft kurzfristig verordente Einschränkungen, können insbesondere während der Klausurzeit schnell ein verpatztes Semester bedeuten. Das Gesundheitsministerium bietet mittlerweile nach Gesprächen mit der Acel für Studierende unabhängig von den Einreisebedingungen des Studienlandes Gratis-Tests an. Die angedrohten vorübergehenden Einschränkungen für das Betreten der Uni-Räumlichkeiten wurden abgeblasen.
Zukunftsperspektiven Die Student/innen, die Job und Studien einigermaßen normal weiterführen konnten, taten dies oft im Home Office. Der Economist prangert im aktuellen Titelthema The absent student Universitäten als oft archaisch an, als Gebilde, die auf jahrhundertealten Lorbeeren liegend nun endlich gezwungen werden, zu innovieren. Während sich an vielen altehrwürdigen Universitäten tatsächlich eine Schere an Progressivismus und Konservatismus mit oder ohne Schmiss auftut, scheinen dennoch viele Institutionen gerade schnell zu handeln. Das Zoom-Icon ist Symbol des future-proofing geworden. Vorübergehend. Es ist eine andauernde Herausforderung mit vielen Hürden die andeutet, sagt Reichling, wie die Universität der Zukunft aussehen könnte und aussehen muss. Neue Modelle sind nötig.
Ognyan konnte seinen Job an der Uni Luxemburg im Administrative support von Zuhause aus weiter ausüben und seine Kurse erfolgreich abschließen; möglicherweise sogar etwas näher am Menschen: „Professors and Staff were understanding. I think they were more forgiving and kind this semester.“ Er wird bald seinen Master in Schottland beginnen: „Es fühlt sich an, als ob ich aus dem lähmenden Raum meiner Wohnung in Luxemburg ausbrechen würde. Ich weiß, dass ich auch einige tausend Kilometer weiter nördlich der Pandemie nicht entkommen werde, aber Veränderung ist Veränderung, und darauf freue ich mich jetzt schon.“ Bis dahin hat er noch sieben Punkte auf seiner Liste abzuarbeiten. Einer davon: „I WILL enjoy the second year of my 20s as if I’m 19 again!“