Seit nunmehr einem Jahr kämpft sich die Neunte Strafkammer durch ein Kapitel Staatsterrorismus im Kalten Krieg. Doch ihre Erfolgschancen schwinden schon wieder

Unpolitische Staatsaffäre

d'Lëtzebuerger Land vom 28.02.2014

Sie gehören zur abendlichen Fernsehfamilie im Land: Die hinter ihrem mosaischen Bilderverbot versteckte, nur durch Skizzen bekannte Vorsitzende Richterin. Die beiden Staatsanwälte, die sich mit ihren Akten stets geschäftig durch die Menge der Wartenden schlängeln. Die wie Pat und Patachon immer etwas überflüssig umherstehenden Angeklagten. Der für jede Kamera einen Schreikrampf spielende Anwalt und seine dauerentrüstete Kollegin. Das stumme Quartett der Ermittlungsbeamten. Die nicht mehr ganz jungen, aber immer noch herrischen Polizeioffiziere. Der verschmitzt seine Leibesfülle umhertragende Oberstaatsanwalt. All die tatterigen und all die wichtigtuerischen Zeugen, die nur auf ihren großen Auftritt warten. Die fieberhaft mit Kugelschreibern und Mikrofonen hinter den Anwälten huschenden Berichterstatter. Die mit ihren Besucherausweisen behangenen Schaulustigen, die sich in der Freizeit ihr Misstrauen gegenüber den unhaltbaren Zuständen bestätigen kommen... Seit nunmehr einem Jahr geben sie alle Tag für Tag das Melodrama um die Aufklärung und Bestrafung der Terrorwelle vor 30 Jahren. „Terror“ genannt werden darf die Welle allerdings bis heute nicht, um keinen Verdacht eines politischen Motivs aufkommen zu lassen.

Pünktlich zum Geburtstag leistete man sich diese Woche wieder großes Kino, als der über seinen Geheimdienst gestürzte Premier Jean-Claude Juncker, der Prinz Jean de Nassau und sein Bruder Guillaume im Blitzlichtgewitter als Zeugen auftraten. Um alleine durch ihren Auftritt daran zu erinnern, worüber sich die streitenden Parteien im Grunde einig sind: dass der Bommeleeërten-Prozess eine „Staatsaffäre ist, die nie herauskommen darf“, so der ehemalige Untersuchungsrichter Prosper Klein zu seiner eigenen Entlastung. Weil es „im Land und im Staat hochgestellte Personen gibt, die genau wissen, wer für die Anschläge verantwortlich ist oder die es gar selbst waren“, so der vom Nachrichtendienst als Pädophiler verleumdete Oberstaatsanwalt Roby Biever

Denn dass die Mitte der Achtzigerjahre verübten Sprengstoffanschläge auf öffentliche Infrastrukturen weder von linken Systemfeinden, noch von islamischen Gotteskriegern verübt wurden, sondern die Täter irgendwie aus dem staatlichen Sicherheitsapparat stammen, bezweifelt weder das Gericht, noch die Staatsanwaltschaft, noch die Verteidigung. Die Frage ist nur, ob dem Gericht gelingen wird, was die Untersuchungsrichter und die Staatsanwaltschaft seit 1985 bald nicht wollten, bald nicht vermochten: die Hintermänner und ihre Tatmotive zu benennen.

Für den größten politischen Prozess seit den Kriegsverbrecherprozessen Ende der Vierzigerjahre waren zunächst 60 Sitzungen und ein Abschluss vor der Sommerpause vergangenen Jahres vorgesehen. Dann richtete sich das Gericht auf 100 Sitzungen bis November ein. Doch auch dieser Termin erwies sich als unhaltbar; nun steuert man bis Ostern auf 160 Sitzung zu. Ob es bis Ende des Jahres zu 200 Sitzungen kommen wird, weiß niemand. Denn sollte, wie nun geplant, Anklage gegen weitere Polizisten erhoben werden, die sich durch ihre Zeugenaussagen der Mittäterschaft, des Meineids oder der Justizbehinderung verdächtig gemacht haben, könnte der Prozess während dieser Ermittlungen, Anklageerhebung und Berufungsverfahren für Jahre ausgesetzt werden.

Die Rekorddauer des Verfahrens erklärt sich selbstverständlich auch damit, dass das Gericht sich anfangs mit der gewissenhaften Anhörung falscher Zeugen verzettelte und auf Nebenschauplätze verrannte. Wer erinnert sich nicht an Andreas Kramer, der seinen Vater beim deutschen Bundesnachrichtendienst alle Bomben der letzten Jahrzehnte legen sah? An die theologische Debatte, ob Kinder oder Liliputaner in den Micky-Maus-Kostümen der Disney-Parks stecken? An die abenteuerlichen Enthüllungen, die Zeugen auf der Grundlage angeblicher Erzählungen kurz zuvor verstorbener Bekannter und Verwandter vortrugen? Bis das Gericht beschloss, die vielen spontanen Zeugen erst durch die Ermittlungsbeamten filtern zu lassen.

Vor allem aber ist die Rekorddauer des Verfahrens darauf zurückzuführen, dass das Gericht noch einmal das Hundert schon von den Ermittlern und Untersuchungsrichtern verhörter Zeugen ausgiebig anhört, obwohl sich ihre Aussagen bereits in der Anklageschrift befinden. Dadurch versucht das Gericht selbstverständlich, die während 30 Jahren verschleppten, von Gendarmerieoffizieren, Geheimdienstlern und vielleicht sogar Ministern sabotierten Ermittlungen vielleicht doch noch zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Und für den Fall, dass dies nicht gelingt, kann es zur Entlastung der Justiz die vom Oberstaatswalt kritisierte „chape de plomb“ so in aller Öffentlichkeit vorzuführen. Diese Vorführung war bereits so beeindruckend, dass der Prozess vergangenes Jahr dazu beitrug, das Misstrauensklima aufzuheizen, in dem die Regierung über ihren hysterisch gewordenen Geheimdienst stürzte. Wobei zur „chape de plomb“, die bis heute auf den Verbrechen der Achtzigerjahre lastet und ihre Aufklärung verhindert, nicht nur die vorgetäuschten Erinnerungslücken wichtiger Beteiligter und die Zerstörung von Protokollen und Beweismitteln gehören, sondern auch die mit gewollter oder ungewollter Unterstützung eines Teils der Presse gelegten falschen Fährten.

Denn auch wenn viele Spuren schon in der Anklageschrift und dann von den Ermittlern meist recht überzeugend als unhaltbar abgetan wurden, kreisen die Verhandlungen immer wieder um dieselben, sich teilweise gegenseitig ausschließenden Erklärungen. Sie sind eine schöner als die andere, unsterblich, weil sie alle von Liebeskummer erzählen, von der unglücklichen Liebe zum Beruf, zum Freund, zur Freundin.

Die offizielle, in der Anklageschrift unter Berufung auf die unvermeidlichen ausländischen Experten vorgebrachte Version erzählt von den idealistischen Elitegendarmen, die aus Liebe zu ihrem Beruf nach Feierabend Bomben zündeten. So überzeugten sie die Autoritäten, zum Schutz der inneren Sicherheit die Arbeitsbedingungen der Gendarmen zu verbessern.

Die nicht minder beliebte Spur handelt vom Supergendarmen Ben Geiben, der sich dafür rächte, dass er wegen der Liebe zu seinem jungen Freund den Dienst quittieren musste. Mit ihm hatte der Oberstaatsanwalt bei einer dubiosen Begegnung in der Privatwohnung eines Ermittlers erfolglos versucht, ins Geschäft zu kommen.

Diese Woche trat auch wieder der Held einer ebenso bewegenden Erzählung auf, der Schwarze Prinz Jean. Er soll wegen seiner nicht standesgemäßen Liebe vom Großherzog verstoßen worden sein und deshalb Angst und Schrecken unter den Untertanen verbreitet haben.

Dagegen verdeutlicht die Zeugenvernehmungen der Hauptverdächtigten noch einmal den Sinn der strengen Polizeihierarchie: Unten sind die rangniederen Beamten, die sich, wie die beiden Beschuldigten Marc Scheer und Jos Wilmes oder ihre als Zeugen vorgeladene Kollegen, wie Marcel Weydert, um Kopf und Kragen reden. Oben sind die Offiziere, wie der damalige Gendarmeriekommandant Aloyse Harpes, sein Stellvertreter Charles Bourg und der auf Drängen des Oberstaatsanwalts abberufene Polizeidirektor Pierre Reuland, die ihr eisernes Schweigen durchhalten und denen das Gericht deshalb nichts anhaben kann.

Diesen Widerspruch versucht die Justiz zu nutzen. Sie erhob aufgrund haarsträubender Aussagen Anklage gegen die beiden ehemalige Beamten der Brigade mobile de la gendarmerie, die seit nunmehr einem Jahr fast jeden Nachmittag wortlos vor Gericht verbringen und sich für ihre Anwaltskosten zu ruinieren drohen. Mit diesen kleinen Fischen will die Justiz andere ködern, bis sich einer so in die Ecke drängen lässt, dass er sich weigert, den Kopf für all die anderen hinzuhalten. Jeden von ihnen ermuntert die Vorsitzende Richterin Sylvie Conter, dass es dem ersten, der auspackt, nicht am schlechtesten ergehen würde. Doch bisher bieb auch dieses Geschäftsangebot erfolglos.

Dabei hatte es Ende vergangenen Jahres einen Augenblick so ausgesehen, als ob die Mauer des Schweigens erste Haarrisse zeigte. Wochenlang hatte sich das Gericht mit der Nacht vom 19.  Oktober 1985 beschäftigt, als ein Attentat auf den Gerichtspalast verübt worden war. Denn es sah, wie schon die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift schrieb, die Stunden als Schlüsselmoment der Terrorwelle an, als Polizei und Nachrichtendienst die Beschattung den ehemaligen Elitegendarmen Ben Geiben kurz vor dem Anschlag abbrachen und kurz danach wieder aufnahmen. Die Erklärung dieses Vorgangs müsste zu den Drahtziehern führen, um so mehr als der vor zehn Jahre verstorbene, als „Insiderspur“ durch die Akten geisternde Elitegendarm Jos Steil eine herausragende Rolle spielte. Aber alle Befehlshaber dieser Nacht hielten auch nach 30 Jahren ihr eisernes Schweigen durch, und die Hoffnungen des Gerichts, zu den Hintermännern vorzudringen, sind nun wieder gesunken.

Romain Hilgert
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