Die Stunde der großen Ernüchterung schlug am Donnerstag vergangener Woche. Landesplanungsminister Jean-Marie Halsdorf präsentierte erst dem zuständigen Parlamentsausschuss, dann der Presse den Suivi du développement territorial du Luxembourg à la lumière des objectifs de l’IVL. Und zumindest für manche Abgeordneten waren die Ergebnisse des IVL-Monitorings derart niederschmetternd, dass sie sich fragten, ob Landesplanung hierzulande nicht eine Illusion sei.
Denn eigentlich sollte ja, so steht es geschrieben im 2003 in Kraft getretenen Programme directeur zur Landesplanung, die wirtschaftliche und demografische Entwicklung in so genannten zentralen Orten kanalisiert werden. An erster Stelle in Luxemburg-Stadt, auf einer zweiten Ebene in Esch/Alzette und dem Bipol Ettelbrück-Diekirch, auf einem dritten Niveau in zwölf weiteren bevorzugt zu entwickelnde Gemeinden wie etwa Clerf, Steinfort, Differdingen oder Junglinster. Das IVL-Konzept empfahl ein Jahr später noch, den Süden um Esch sowie die Nordstad um Ettelbrück und Diekirch als „Entwicklungspole“ voranzutreiben, damit sie Gegengewichte zur Hauptstadt bilden und die Berufspendlerströme eindämmen helfen könnten.
Was aber erhob die Geografie-Abteilung des Differdinger Forschungszentrums Ceps/Instead, als es die IVL-Indikatoren zwischen Anfang 2006 und Ende 2007 erneut anwandte? Überdurchschnittlich viele Neugründungen von Betrieben gab es längst nicht in allen zentralen Orten, sondern nur im Ballungsraum um Luxemburg-Stadt sowie in Echternach, Remich, Clerf und Grevenmacher. Ausgerechnet Esch und die Nordstad waren „peu dynamiques“. Ganz im Gegensatz zu Weiswampach, Ulflingen, Heinerscheid oder Winseler: hoch oben im Norden ging die Wirtschaftsentwicklung ähnlich stürmisch voran wie in der Hauptstadt-Agglomeration.
Ähnlich die Bevölkerungsentwicklung: Zu ihr trugen in absoluten Zahlen zwischen 2002 und 2007 Luxemburg-Stadt, Esch und Differdingen am stärksten bei. Die Zuwachsrate pro Gemeinde dagegen war in Landgemeinden besonders groß: Wuchs die Bevölkerung landesweit im Schnitt um 1,41 Prozent jährlich, waren es in den bevorzugt zu entwickelnden zentralen Orten nur 1,27 Prozent, dafür in Landgemeinden mit 2,27 Prozent fast doppelt so viel. Dabei sollte laut IVL den Landgemeinden lediglich eine „Eigenentwicklung“ zugestanden werden – mit einer bescheidenen Wachstumsrate. Denn „die durchschnittliche Siedlungsdichte ist in Luxemburg sehr niedrig, sie erlaubt mit weniger als 20 Einwohnern pro Hektar keine ökonomische Ausrichtung des öffentlichen Verkehrs“, schrieb das international besetzte IVL-Expertengremium in seinen politischen Empfehlungen zum IVL-Konzept. Verstärkt werden müssten unbedingt die urbanen Räume.
Doch: Während die Experten ihre Empfehlungen im Spätherbst 2003 gaben und noch meinten, die Landesplanung sollte „schrittweise Entwicklungen“ ermöglichen, „um auf eine mögliche Verlangsamung der aktuellen Entwicklungsdynamiken reagieren zu können“, setzte der Wirtschaftsboom erst richtig ein.
BIP-Wachstumszahlen von bis zu sechs Prozent im Jahr 2006 und Beschäftigungszuwächse um über vier Prozent sprengten alle IVL-Szenarien. Von den im IVL vorhergesagten 106 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen bis 2020 wurden 55000 bereits bis Ende Oktober 2007 geschaffen.
Droht die Entwicklung politisch der CSV zum Verhängnis zu werden, die in der letzten Legislatur das IVL auch deshalb vorantrieb, um zu demonstrieren, dass es einen „séchere Wee“ in den 700000-Einwohnerstaat gebe? Wahlentscheidend werden landesplanerische Probleme kaum werden. Dass unter den Top-15 der Gemeinden mit dem höchsten Flächenverbrauch mit Luxemburg-Stadt, Esch/Alzette und Junglinster nur drei zentrale Orte sind, dafür Landgemeinden wie Hosingen, fällt draußen im Land vermutlich nicht weiter auf. Verkehrsprobleme schon eher: „Le trafic sur les axes principaux du pays, déjà fortement problèmatique en 2002, a augmenté de plus de 12% en moyenne jusqu’à 2007“, schreibt das Ceps. „Cette augmentation est particulièrement forte sur les autoroutes (+20%).“ Dass der Verkehr auf der Düdelinger Autobahn nur um 1,5 Prozent wuchs, liege daran, dass die Berufspendler sich Schleichwege suchen: immerhin stieg auf der CR184 bei Düdelingen das Verkehrsaufkommen um 22 Prozent, auf der N33 bei Rümelingen um 24 Prozent.
Da ist es dann doch nicht erstaunlich, dass Landesplanungsminister Halsdorf und Transportminister Lucien Lux sich in den letzten Monaten in Äußerungen auf verschiedene parlamentarische Anfragen hin gegenseitig die Schuld für stockende Mobilitätsplanungen zuwiesen. Dass niemand weiß, welchen genauen Anteil der öffentliche Transport an allen Verkehrsbewegungen hat, haben wahrscheinlich beide zu verantworten: Obwohl seit sechs Jahren gebetsmühlenartig wiederholt wird, 25 Prozent bis 2020 seien das Ziel, datiert die letzte wissenschaftlich exakte Messung des Modal split von Mitte der Neunzigerjahre, selbst für das IVL-Konzept wurden diese Zahlen nur extrapoliert. Eigentlich sollte die Modal-split-Messung für das IVL-Monitoring wiederholt werden und detailliert die Fahrtbewegungen innerhalb des Landes erfassen. Dass sie fehlt, bedauern die Ceps-Autoren mehrmals in ihrem Bericht. Aber man habe sich nicht gegen Budgetminister Luc Frieden durchsetzen können, als es darum ging, die nötigen Mittel für die Studie locker zu machen, erinnert Transportminister Lux sich. Für den Staatshaushalt 2009 ist ein neuer Anlauf vorgesehen. Schon wahr: Landesplanung ist ein ressortübergreifender Prozess.
Immerhin: Jetzt kommen die vier sektoriellen Pläne. Für Transportwege, schützenswerte Landschaften, für Wohnungsbau und Gewerbegebiete sollen sie mit Gesetzeskraft festschreiben, was wo sein soll und was nicht. Die Entwürfe des Transport- und des Landschaftenplans sollen am 7. Juli veröffentlicht werden, die beiden anderen bis Ende des Jahres. In Kraft treten werden sie alle nicht vor der nächsten Legislatur. Dann aber ist Schluss mit der Anarchie, so ähnlich lautet ein Prinzip Hoffnung des Landesplanungsministers.
Hoffentlich behält er Recht. Denn so ganz klar ist nicht, wie vor Ort umgesetzt werden soll, was in den Sektorplänen stehen wird. Die Gemeinden müssten ihre General-Bebauungspläne, die sie bis spätestens 2011 überarbeiten müssen, danach ausrichten. „Parzellenscharf“ sind die Sektorpläne allerdings nicht, weshalb im Landesplanungsgesetz eine parallele Regionalplanung „von unten“ vorgesehen ist, die die Gemeinden einschließt und den Kontakt zu den Sektorplanungen des Staates hält.
Doch während Jean-Marie Halsdorf vor zwei Jahren resignierend bemerkte, die Regionalplanung funktioniere nicht und vor einem Jahr das Landesplanungsgesetz abzuändern ankündigte, um mit lokalen Flächennutzungsplänen die Durchsetzung der Sektorpläne von oben her zu erzwingen, ist davon heute keine Rede mehr. Auch nicht mehr davon, die bestehenden sechs Regionen abzuschaffen und durch die vier Wahlbezirke zu ersetzen, wie der Minister im November auf einem Vortrag an der Universität Trier zur allgemeinen Überraschung hierzulande ankündigte, aber nie ernsthaft vorschlug. Nun scheint es von allem etwas zu geben: Im Süden des Landes wurde mit der Ausarbeitung eines Regionalplans begonnen, andernorts will Halsdorf den Informationsfluss zwischen Staat und Gemeinden durch Konventionen sichern, wie sie für die Nordstad, den Südwesten der Hauptstadt sowie das Alzette-Tal mit Mersch schon bestehen und demnächst auch für den Nordosten von Luxemburg-Stadt inklusive der Flughafen-Anrainergemeinden abgeschlossen werden sollen. Die Nordstad will der Minister darüber hinaus finanziell und mit Knowhow kurzfristig noch stärker begleiten. Wo jedoch weder ein Regionalplan ausgearbeitet wird, noch eine Konvention besteht, sollen die Gemeinden mehr oder weniger selber sehen, was für Herausforderungen die sektoriellen Pläne des Staates an sie stellen.
Ob sich damit die Entwicklung der Landgemeinden steuern lässt, bleibt abzuwarten. Konflikte dürfte es zwischen dem Sektorplan Wohnungsbau und dem Wohnungsbaupakt-Gesetz geben, das demnächst verabschiedet werden soll und jeder Gemeinde 4 500 Euro pro Einwohner verspricht, der über ein Prozent Bevölkerungszuwachs im Jahr hinausgeht. Das sei „schon nicht einfach“, räumt der Landesplanungsminister ein, denn die Landgemeinden, denen laut IVL „in zehn Jahren ein Eigenwachstum um acht Prozent zugestanden werden sollte, dürfen nun um 15 Prozent wachsen, dann werden sie förderfähig durch den Wohnungsbaupakt“.
Doch nicht nur ist der Gießkannen-Ansatz des Wohnungsbaupakts ein landesplanerisches Risiko, das Halsdorf nicht abzuwenden vermochte, als Premier Jean-Claude Juncker vor zwei Jahren mit Wohnungsbauminister Fernand Boden meinte, das Grundstücksangebot zu erhöhen sei prioritär. Eine weitere entscheidende Systemfrage betrifft die Hauptstadt und ihr Umland: Inwieweit sollen sie noch weiter wachsen? Rein rechnerisch wäre allein schon im Südwesten von Luxemburg-Stadt ein Wachstum „à la Dubai“ ein Risiko für die anderen Standorte, die noch entwickelt werden sollen. Die Frage ist auch eine wirtschaftsstrategische: Bürgermeister Helminger warnt seit längerem schon davor, den „gewachsenen Cluster“ aus Finanzdienstleistungen, Verwaltungen und Justiz zu schwächen, indem man versuchte, ihn über Land zu verteilen. Andrerseits jedoch könnte die Cluster-Dynamik allein der Gemeinde Luxemburg im Jahr 2030 um die 211000 Arbeitsplätze einbringen, über 70000 mehr als heute. Der geltende Bauperimeter gibt das her, rechnete Helminger Ende Januar auf einer Pressekonferenz vor.
Wie wünschenswert im Gesamtzusammenhang das wäre, sollte, meint der Landesplanungsminister, geklärt werden, wenn die Hauptstadt den Entwurf zu ihrem neuen Generalbebauungsplan zur Genehmigung einreicht, fügt aber hinzu, dass man der Stadt schwer verbieten könne, ihre Vorzüge zu entwickeln.
Doch je mehr sie das tut, desto größere Auswirkungen wird es auf die Raumentwicklung haben: Eine ökonomisch immer schwergewichtiger werdende Hauptstadt, einschließlich ihrer Randgemeinden, wird immer mehr zum Herz einer Metropole werden, die über die Landesgrenzen hinaus reicht und sich in den angrenzenden Nachbarländern Schlafgemeinden schafft. Nicht nur die wachsende Grenzpendlerzahl ist ein Indiz dafür, auch der Wegzug Luxemburger Familien ins nahe Ausland, der dort niedrigeren Grundstückspreise wegen. Und der Zuzug von Fachpersonal von immer weiter her aus der Großregion, welches seinen Wohnsitz nicht in Luxemburg nimmt, sondern hinter der Grenze. Womöglich wird die Landesplanung bald schon resolut grenzüberschreitend durchgeführt werden müssen.