Der Neoliberalismus

Wie Phönix aus der Asche

d'Lëtzebuerger Land vom 23.12.2011

Der Neoliberalismus ist nicht infolge der von ihm selbst herbeigeführten Krise untergegangen – nein, nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte steht er politisch einflussreicher da denn je. Zum Beweis: Obwohl die Krise durch das marktwirtschaftliche Agieren der Banken ausgelöst wurde, sucht man ihre Folgen zu bekämpfen, indem man den Sozialstaat stutzt und die Ausgaben der öffentlichen Hand beschneidet. Die Frage ist: Wie kam es zu diesem doch überraschenden Ergebnis?

Von zentraler Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass der Neoliberalismus bei weitem nicht so sehr auf freie Marktwirtschaft setzt, wie es seine Theorie gerne vorgibt. Stattdessen beruht er auf dem politischen Einfluss von Großkonzernen und Banken. Da es in den wirtschaftspolitischen Debatten in vielen Ländern allein um die Opposition von Markt und Staat geht, tritt die Existenz dieser dritten Kraft in den Hintergrund, obwohl sie potenter ist als ihre Kontrahenten. Die politische Szenerie des 21. Jahrhunderts wird nicht mehr von Auseinandersetzungen, sondern von Vereinbarungen zwischen den drei Kontrahenten bestimmt.

Der politische Einfluss der Konzerne und Banken lässt sich an der Vielzahl der Lobbys im Umkreis aller Körperschaften der Legislative und Exekutive ablesen. Klassische staatliche Aufgaben werden tendenziell an private Subunternehmer vergeben, die Gelegenheit, die Politik insgesamt mitzubestimmen. Die seit 2008 grassierende Wirtschafts- und Finanzkrise hat denn auch die Bedeutung von Großkonzernen keineswegs gemindert, sondern nur noch unanfechtbarer als zuvor erscheinen lassen.

Es gibt keine ökonomische oder politische Theorie, die eine solche Machtentfaltung von Privatunternehmen befürworten oder verteidigen würde, und doch ist deren Macht in unserem politischen Leben Alltag geworden. Es geht demnach auch nicht mehr nur um das Duell „Markt versus Staat“, sondern es geht vielmehr um einen „Dreikampf“, in dem die Kontrahenten Staat, Markt und Großunternehmen miteinander ringen. Allerdings handelt es sich derzeit eher um ein komfortables Arrangement als um einen Kampf. Das liegt einerseits daran, dass die Konzerne die Vereinigung aller drei Kontrahenten unter ihrer Führung betreiben, zum anderen daran, dass es keine einleuchtende Alternative zu einem solchen Arrangement gibt.

Der heutige Neoliberalismus hat sich in erstaunlicher Weise vom politischen und ökonomischen Erbe des urspünglichen Liberalismus verabschiedet, indem er enge Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen für vollkommen unproblematisch hält, sofern die Unternehmen diese Beziehungen dominieren. Wenn also Neoliberale auf wettbewerbshemmende Verflechtungen zwischen Staat und Unternehmen hinweisen, dann nur, weil sie auf eine bestimmte Lösung hinauswollen: den vollständigen Rückzug des Staats aus dem Markt.

Tatsächlich jedoch waren es nicht die Regulierungen, sondern die Deregulierungen, die eine schädliche Verflechtung zwischen Firmen und Behörden herbeiführten, führte doch die Agenda der Deregulierung in den 90-er Jahren zu einem unverantwortlichen Boom an den Finanzmärkten, zurückzuführen auf einen umfangreichen Lobbyismus des Bankensektors.

Der Neoliberalismus trat seine Regentschaft an, als sein Vorgänger, die keynesianische Nachfragesteuerung, in den 70-er Jahren eine massive Inflationskrise heraufbeschwor. Der Keynesianismus wurde abgelöst, weil die Schicht, deren Interessen er vertrat, die Arbeiterschaft der westlichen Industrieländer, sich in einem historischen Niedergang befand und ihre gesellschaftliche Macht zu verlieren begann.

Im Gegensatz dazu haben die Kräfte, die heute vom Neoliberalismus profitieren – globale Konzerne insbesondere des Finanzsektors – keineswegs an Einfluss verloren. Obwohl die Banken für die seit 2007 andauernde Krise verantwortlich zeichnen, gingen sie aus ihr gestärkt hervor. Man befand, dass sie unverzichtbar für die Wirtschaft seien, und beschloss, sie vor den Folgen ihrer eigenen Torheit zu bewahren. Die meisten anderen Wirtschaftssektoren, die von der Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden, kamen nicht in den Genuss einer solchen Vorzugsbehandlung. Der Finanzsektor hat damit den Beweis erbracht, dass der Rest der Gesellschaft auf sein Funktionieren angewiesen ist und da er gerettet wurde, während man andere zu Einsparungen zwang, wird er eine gewichtigere Rolle spielen denn je.

Man kann die derzeitige Finanzkrise als Marktversagen gigantischen Ausmaßes betrachten. Es lässt sich aber auch behaupten, dass der Finanzmarkt sich zum perfektesten Markt gemausert hatte. Der Wert eines Unternehmens oder die Größe eines Risikos wurden allein durch marktwirtschaftliche Mechanismen bestimmt. Auf der anderen Seite zerstörten jedoch auch dieselben perfekten Marktprozesse andere wesentliche Bestandteile eines funktionierenden Marktes: der Markt gab Anreize, den Wert der Risiken zu vernachlässigen. Das System förderte zudem übermässigen Optimismus.

Dieser Optimismus speist sich aber auch noch aus der Annahme, dass die Staaten einen Zusammenbruch des Systems nicht zulassen werden. Heute wissen die Banken, dass der Staat sie raushauen wird. Die Konsequenz: Sie gehen jetzt höhere Risiken ein als vorher.

Diese Beschreibung der Entwicklung der Finanzmärkte ergibt das Bild eines parasitären Systems. Aber so einfach ist die Sache nicht. Mil-lionen Menschen, darunter viele mit niedrigem Einkommen, haben ein paar Krümel vom Tisch der Reichen abbekommen. Die Schuldenmacherei griff auch auf sie über. Der Finanzmarkt ließ den „kleinen Mann“ teilnehmen, jedoch nicht als Arbeitnehmer, sondern allein als Schuldner, als Akteur auf den Kreditmärkten. Dieser politische Wandel war grundlegender als alle Regierungswechsel. Er hat zu einem Rechtsruck im ganzen politischen Spektrum geführt.

Heute sehen wir, dass der Neoliberalismus uns in eine Zwickmühle geführt hat: Um dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen, müssen wir einer sehr kleinen Anzahl von Leuten erlauben, zu extrem viel Geld und politischem Einfluss zu gelangen. Diese Leute sind aber genau dieselben, die von der Bankenrettung profitierten und schon wieder begonnen haben, sich hohe Boni auszuzahlen, aufgrund der „Gewinne“, die sie erwirtschaften, seit man ihre Geschäfte auf Kosten explodierender Staatsschulden gegen jedes Risiko abgesichert hat.

Man kann also verstehen, dass die Eliten der Wirtschaft und der Politik alles Mögliche tun werden, um den Neoliberalismus im Allgemeinen und seine finanzmarktgetriebene Form im Besonderen zu erhalten. Dieses System hat ihnen hochgradige Zuwächse an Geld und Macht eingebracht und sie werden demnach mit aller Zähigkeit an diesem System festhalten.

Für das Wirtschaftswachstum in westlichen Ländern ist die Kapitalbeschaffung nach wie vor wichtiger als die Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse bildet lediglich nationale Gruppen mit äußerst unterschiedlichen historisch-kulturellen Hintergründen, Organisationsformen und Zielen. Das Finanzkapital hingegen ist nicht an feste Strukturen gebunden. Aus der Krise heraus wird sich also wahrscheinlich wieder ein System etablieren, in dem Großunternehmen und Banken dominieren: Die Logik der Globalisierung ist mit dem Kollaps der Finanzsysteme nicht verschwunden.

Dieser Prozess der „Rehabilitierung“ des Neoliberalismus hat bereits begonnen....

– Schon im Laufe des Jahres 2010 waren nahezu alle alten Praktiken auf den sekundären Märkten wieder in Kraft.

– Die Gesetzesentwürfe einer strengeren Regulierung, so weit es sie überhaupt schon gab, wurden erheblich abgeschwächt.

....und wird sich auch fortsetzen:

– Die Politik wird eine Rückkehr zum Kreditboom als den besten Weg betrachten, die Nachfrage anzukurbeln und zugleich mit der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts fortfahren.

– Manche Staaten werden sich verleiten lassen, ihre gesetzlichen Vorschriften zu lockern, um im Wettbewerb um die Ansiedlung von Finanzunternehmen die Nase vorn zu haben.

– Die Finanzbranche selbst wird von wenigen großen Akteuren geprägt sein, die über ausgezeichnete Kontakte zu den Behörden verfügen.

– Jene Banken, die auf dem Höhepunkt der Krise verstaatlicht wurden, werden nicht im Staatsbesitz bleiben, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach in die Hände einiger weniger Großkonzerne übergehen.

Diese Prozessdarstellung möge vielleicht recht spekulativ sein, und zukunftstauglicher wäre wohl auch die Rückkehr zu einem zweigeteilten Bankensystem: Neben einer Gruppe vermutlich sehr großer Unternehmen, die sich um die Ersparnisse und Investitionen von Kleinanlegern und mittelständischen Firmen kümmern und denen riskante Geschäfte gesetzlich untersagt sind, gäbe es die Investmentbanken, die hohe Risiken eingehen dürfen, aber ausschließlich ganz bewusst auf diese Weise anlegen wollen.

Das Problem ist jedoch, dass Banker wie Politiker vom Baum der Erkenntnis der sekundären Märkte gekostet haben:

– Die Banker wissen, welche enormen Profite expandierende Derivatmärkte ermöglichen.

– Die Politiker wissen, wie nützlich die Privatverschuldung ist, um trotz Einsparungen im Sozialsystem und dem Abbau von Arbeitnehmerrechten, die Kaufkraft relativ einkommensschwacher Konsumenten zu erhalten.

Andererseits weiß die Politik jetzt auch um den Schaden, den die sekundären Märkte anrichten können, wenn ihr Wachstum außer Kontrolle gerät. Sie wird also Absicherungen gegen eine uneingeschränkte Rückkehr zum deregulierten Modell verlangen. Wahrscheinlich wird es deshalb nach und nach zu einer Verhandlungslösung kommen, die aufgrund der guten Beziehungen zwischen Politik und Finanzmarktakteuren eine freiwillige Selbstkontrolle der Finanzwirtschaft als Ausgleich für einen Abbau der Vorschriften vorsieht. Vieles spricht demnach dafür, dass die Macht der Banken und Konzerne weiter wachsen wird.

Obwohl die Großkonzerne nach wie vor allein ihren Aktionären gegenüber verantwortlich sind, bleiben sie auch nach dem Finanzschlamassel Schlüsselfiguren für die Aufrechterhaltung der Stabilität nicht nur der Wirtschaft, sondern der gesamten Gesellschaft.

Was also bleibt nach der Finanzkrise vom Neoliberalismus?

So gut wie alles!

Jim Schumann
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