Hoscheit, Jhemp: Mondelia

Zauberkraut

d'Lëtzebuerger Land vom 06.01.2011

Am Anfang gibt es dieses Haus, an dem ein Mädchen auf seinem Schulweg vorbeikommt. Es sei kein besonderes Haus, verrät der Erzähler. Und dennoch: „Hätt d’Marie deen Dag net op d’Fënster vun deem Haus gekuckt, da géif et déi heite Geschicht net.“

Marie erblickt im Vorbeigehen zufällig eine Pflanze hinter den unsauberen Fensterscheiben, sieht vielleicht eine Sekunde zu lang hin und wird prompt vom Bewohner dieses so ganz und gar gewöhnlichen Hauses in ein Gespräch verwickelt. Der Mann schlägt Marie vor, ihn hin und wieder zu besuchen um mit kleineren Arbeiten auszuhelfen. Der pensionierte Gärtner verbringt buchstäblich seine ganze Zeit mit der Pflege seiner Zimmerpflanzen, die er, wie er zugibt, liebt als wären es seine Kinder. Seinetwegen werde Marie in die Geschichte verwickelt, unkt die Erzählerstimme. „Dofir ass et besser, mir ginn him en Numm. De Mann heescht Ferdinand Grimmler.“

Solche beherzten Abstecher auf die Metaebene, wo sich der Erzähler als Puppenspieler der Figuren und Drahtzieher seiner Geschichte outet, gibt es in der zeitgenössischen Literatur nicht einmal wenig. Was aber in Mondelia auf den ersten Blick doch ungewöhnlich erscheint, ist die Art und Weise, wie Jhemp Hoscheit den Leser sozusagen an der Hand nimmt und Schritt für Schritt durch die Geschichte führt. Sein Tonfall ist für ein im Untertitel als „Kriminalroman“ ausgewiesenes Buch, von einer überraschenden Behutsamkeit. Zu keinem Zeitpunkt muss der Leser um das Wohlergehen des Mädchens oder das gute Ende der Geschichte fürchten: Weder in der muffigen Bleibe des alten Mannes noch später in dem heruntergekommenen Versteck, in das ihre Entführer sie einige Seiten später bringen werden, geschieht Marie ein Leid. Von den Banditen wird sie sogar recht ordentlich mit Pasta, Müsli und einer Jugendzeitschrift versorgt. Aber welche Gefahr soll auch von Banditen ausgehen, die „Sebigboss“ und „Capito“ heißen?

Die Sache geht also glimpflich aus: Nach ein paar Tagen kommt Herr Grimmler dem Versteck der Gangsterbande auf die Spur, kann sie lange genug (mithilfe seines Fahrradschlosses) einsperren und die Polizei verständigen. Capito kassiert einen Schuss in die Schulter, die Bande wird festgenommen und Marie kehrt wohlbehalten zu ihrer Familie zurück. Der Autor lässt den Leser mit einem Eintrag aus den privaten Aufzeichnungen des heldenhaften Herrn Grimmler zurück, der leise Bedenken äußert, was er der Polizei wohl erzählen wird, wenn er gefragt wird, woher er das Versteck der Gangster kannte. Diese Antwort ist nämlich kaum zu glauben: Der Hobbygärtner besitzt eine Pflanze – eben jene, die Marie auf der ersten Seite des Romans hinter der Fensterscheibe entdeckt –, die mit allerhand erstaunlichen Fähigkeiten ausgestattet ist: Sie sieht, sie hört, sie hat sowohl ein Gedächtnis als auch ein Selbstverhältnis, und sie kann sogar schreiben. Herr Grimmler findet eines Tages auf der Unterseite eines Blattes den Namen des Ortes, wo Marie festgehalten wird, wie auch den Eingangscode für die Pforte des Verstecks. Zwei der Räuber, eine kleinkriminelle Version von Dick und Doof, hatten sich bei einem Einbruch ausführlich über die Entführung unterhalten und das schlaue Grünzeug hatte sich alles gemerkt.

Mondelia gleicht, mehr noch als einer umfangreichen Kriminalgeschichte für Kinder, einem groß angelegten Zaubermärchen. Die Zuordnung als reines Kinderbuch fällt aber nicht nur aufgrund der Länge des Buches schwer, sondern auch, weil sich der Autor mit dem Schicksal der Kinder, also von Marie und ihrem Bruder Claude, kaum befasst. Es scheint, als ginge es ihm vor allem darum darzustellen, wie die verschiedenen erwachsenen Akteure, Herr Grimmler, der Polizeikommissar, die Eltern, mit dem Verlust des Mädchens umgehen. Hoscheit stellt dabei vor allem die wütende Hilflosigkeit des Vaters eindringlich dar, seinen Versuch, Marie auf eigene Faust aus den Händen der Entführer freizukaufen, und seine Verzweiflung angesichts der Tatsache, dass er nichts auszurichten vermag. Dieser Verlust ist das einzige wirklich realistische Element in einer ansonsten nahezu märchenhaft heilen Welt, in der Kidnapper nicht mehr sind als ein paar linkische Deppen und die eklatante Inkompetenz der Polizei durch die magische Intervention einer Zimmerpflanze wettgemacht werden kann.

Jhemp Hoscheit: Mondelia. Kriminalroman. Éditions Guy Binsfeld, Luxemburg 2010. 346 S. ISBN 978-2-87954-236-2; 23,90 Euro.
Elise Schmit
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