Mit Lust und Leichtigkeit ein brisantes Thema angehen, wird sich Universitätsrektor Rolf Tarrach gedacht haben, als er am Montagabend im Lycée Michel Lucius unterhaltsam über Studierfähigkeit und Defizite des Sekundarunterrichts referierte. Tarrach war der dritte Gastredner einer Konferenzreihe, die das Unterrichtsministerium seit Ende Herbst 2009 veranstaltet. Nicht ohne Hintergedanken: Die Konferenzen sollen Denkanstöße für die geplan-te Oberstufen-Reform des Sekundarunterrichts liefern, die sozialistische Ministerin will nun Nägel mit Köpfen machen.
Viele waren gekommen: Direktoren gaben sich die Ehre, begleitet von Schulkoordinatoren und interessierten Lehrern aus verschiedenen Fachrichtungen. Die Ministerin saß mit ihren drei höchsten Beamten in der ersten Reihe, um den Hals einen Schal in hoffnungsfrohem Grün geschlungen. Der Unirektor legte sich ins Zeug, sprach von der Notwendigkeit, Luxemburgs Schüler auf die Wissensgesellschaft und für die wachsende ausländische Konkurrenz fit zu machen – und konnte mit seiner Hamburger Mundart und seiner nonchalanten Art einige Lacher verbuchen.
Doch das Bild trügt, die Stimmung ist angespannter, als es scheint. Vor Weihnachten lief die Frist ab, die das Ministerium den Schulen vorgeben hatte, damit diese Stellung zu Stärken und Schwächen des Cycle moyen und Cycle supérieur des Enseignement secondaire classique (ES) und technique (EST) beziehen. Neben Regionalkonferenzen im vergangenen Herbst bilden sie den Auftakt eines „längeren Reflexionsprozes-ses“, wie es Jos Bertemes ausdrückt, an dessen Ende ein Gesetzentwurf zur Reform der Mittel- und Oberstufe des Sekundarunterrichts stehen soll. Bertemes ist Nachfolger von Michel Lanners und als neuer Direktor des Script mit der Steuerung des Prozesses betraut.
Die Positionspapiere von acht Schulen liegen vor1 – und sie geben ein widersprüchliches Bild. Klar ist nur: Eine Großreform will offenbar niemand, Evolution statt Revolution lautet der Grundtenor. Es gibt auch Gegner: „Vous nous demandez notre avis sur une éventuelle réforme dont nous ne voyons pas l’intérêt, si elle est appliquée dans ces conditions“, erzürnen sich Lehrer des Lycée Mathias Adam in Petingen (LTMA). Man sei ausgebildet, Programme auszuführen, nicht sie aufzusetzen. Die Misere habe sich die Ministerin selbst eingebrockt – als sie 2006 die Promotionskriterien lockerte. So deutlich hat noch keine Schule die sozialistische Bildungspolitik abgewatscht.
Ob der brüske Ton der Petinger Delegation für die allgemeine Stimmung am LTMA steht, ist unklar, denn die Vorgehensweise war nicht in allen Schulen dieselbe: Einige Lehrer wurden von der Direktion via Vollversammlung zum Nachdenken eingeladen, andere, zum Teil aus Zeitmangel, zum Teil, um sicher zu gehen, dass überhaupt jemand mitmacht, kurzerhand ernannt. Nicht wenige Lehrer wissen noch gar nicht, was für eine Position ihre eigene Schule im Hinblick auf die mögliche Reform vertritt. In einem Punkt aber dürften die aufsässigen Petinger vielen Kollegen aus dem Herzen gesprochen haben: Nahezu alle Schulen machen die Promo-tionskriterien verantwortlich für die Nullbockhaltung vieler Schüler. „...il faudra adapter les critères de promotion et bloquer carrément aux élèves l’accès à des sections où ils n’auront aucune chance de réussite“, fordern auch die Lehrer des Lycée technique Nic Biewer genervt. Das Diekircher Lycée classique bemängelt Orientierungsempfehlungen, die „pas assez contraignantes“ seien.
Wie aber verträgt sich der Wunsch vieler Schulen nach einer wirksameren Selektion mit dem politischen Ziel, die Zahl der Hochschulabsolventen zu erhöhen? Mit rund 33 Prozent seiner 25-bis 34-Jährigen, die 2009 über ein Hochschuldiplom verfügten, steht Luxemburg im Vergleich mit seinen Nachbarn (Frankreich 41, Belgien fast 42 Prozent, laut OECD), nicht sehr gut da. Für den Unirektor Rolf Tarrach ist klar: „Das reicht nicht.“ Zumal andere Schulen in der Grenzregion bei den Sprachen aufrüsten und dadurch ein Standortvorteil Luxemburgs verloren gehen könnte.
Dass der Druck auf das Luxemburger Schulsystem steigt, darin sind sich fast alle einig. Nicht aber in den Schlussfolgerungen. Während die einen das aktuelle System der Mehrsprachigkeit erhalten und lieber stärker aussieben wollen, plädieren andere dafür, differenzierte Sprachniveaus zuzulassen und mehr Schülern den Weg zum begehrten Abschluss zu ermöglichen. Dafür soll die Spezialisierung in den Sektionen zurückgefahren und stärker in die Allgemeinbildung investiert werden. „Il s’avère absolument nécessaire de maintenir un certain niveau de compétence dans les trois langues enseignées“, warnt indes die Vertretung des Lallinger Lyzeums, die überzeugt ist, „qu’il serait faux de fonder les connaissances langagières sur la seule base d’une pratique de la communication“. Die, wohlgemerkt, fordert niemand, selbst die Ministerin nicht, die von einem besseren Gleichgewicht zwischen mündlichen, schriftlichen und Verstehenskompetenzen spricht. Interessant: Ausgerechnet Schulen im „roten“ Süden vertreten eher konservative, im Sinne von den Status quo bewahrende Positionen.
Anders das Atert-Lycée in Redingen. Dessen Reflexionspapier ist mit sechs Seiten am ausführlichsten und weicht auch Strukturfragen nicht aus: Alle Schüler sollten so weit wie möglich in allen drei Sprachen gefördert werden, aber nicht so Sprachtalentierten sollte der Weg in eine gleichwertige weiterführende Ausbildung, auch im Classique, trotzdem nicht versperrt werden. Ein ausgetüfteltes System aus Wahl- und Pflichtkursen, Erst- und Zweitsprachen, einer Orientierungs-, Präspezialisierungs- und Spezialisierungsphase soll das möglich machen. Inhaltliche Überschneidungen gibt es am ehesten mit den Kollegen vom Lycée classique de Diekirch (LCD). Von den Redinger kommt auch der – von mehreren Schulen unterstützter – Vorschlag, zum Semestertakt zu wechseln, um den Prüfungsstress zu mindern und sich stärker auf den Unterricht zu konzentrieren. Dass das Lyzeum, das seine Feuertaufe gerade hinter sich hat, mit einem so ausgefeilten Konzept in die Diskussion einsteigt, erklärt sich wohl mit der Dynamik der Anfangsjahre. Erstaunlicher dagegen, dass das Aline Mayrisch, einstige Vorzeige-Reformschule der Hauptstadt, außer mit einer vagen Kritik am Punktesystem nur mit einem dürren einseitigen Reflexionspapier aufwartet. Das Neie Lycée, das in der Oberstufe mit Modulen arbeitet, hat bisher nichts Schriftliches vorgelegt.
Die Stellungnahmen liefern noch andere spannende Inneneinsichten. So manche inhaltliche Schwerpunktsetzung erklärt sich mit der Ausrichtung einer Schule – und dem Profil ihrer Schüler: Das Lycée technique im Arbeiterviertel Bonneweg wünscht eine verbesserte Orientierung nach der 9e und fordert die „ouverture linguistique“ und mehr „passerelles (dans l’horizontale et dans la verticale)“. Das ehrwürdige Athenäum kann sich eine Beschränkung des Abschlussexamens auf Kernfächer vorstellen, zum Thema „Durchlässigkeit“ in Richtung Technique äußert sich das Kolléisch, anders als beispielsweise das LCD, aber nicht, wohl um keine schlafenden Hunde zu wecken. Laut Regierungsprogramm sollen „tous les lycées secondaires qui accueillent des classes du cycle inférieur classique, créeront également des classes du régime technique“.
Vielsagend ist auch, was andere Schulen nicht ansprechen: Obwohl nahezu alle die Arbeitsmoral der Schüler kritisieren und über sinkende Leistungen klagen, gibt es wenig Vorschläge, woher die Lust am Lernen plötzlich kommen soll. Das Echternacher Lyzeum schlägt mehr Methodentraining à la Heinz Klippert vor, das Lycée technique du centre denkt laut über „cours renforcés spécifiques“ für Späteinsteiger nach und spielt, allerdings ohne große Meinung, verschiedene Szenarien durch, wie durch die frühe Orientierung nach der 9e überforderte Schüler besser aufgefangen werden könnten. Motiviertes Brainstorming sieht anders aus.
Wenig wird auch über das miese Schulklima räsoniert, zentrale Erkenntnis sowohl bei Pirls als bei Pisa. Geschweige denn über die Qualifikation der Lehrer. Einfach nur vor schlechten Lehrern zu warnen, wie es Rolf Tarrach in seinem Vortrag tat, ist zu einfach, aber dass der Lehrer und sein Unterricht der Schlüssel für gute Noten sind, ist empirisch belegt. Die Hardcore-Skeptiker aus Petingen verbitten sich allerdings von vornherein jede Kritik am Lehrer. Demnach wäre mit strengeren Promotionskritierien alles in Butter und das Motto: Weiter so wie bisher? Oder fehlt es an Mut, kreativen Köpfen und überzeugenden Ideen?
Dann geht es Schulen nicht viel anders als dem Ministerium. Man werde die Stellungnahme der Schulen „eingehend lesen“ und im Februar „ein Synthese-Papier“ vorlegen, antwortet Jos Bertemes auf die Frage, wie es weitergehen soll. Die gegensätzlichen Ansichten zusammenzufassen, dürfte nicht leicht werden. Dann wird das Ministerium auch Farbe bekennen müssen, wo es den Hebel ansetzen will. Und spätestens dann dürfte der Streit um die nächste Schul-Baustelle offen ausbrechen. Die schwarz-rote Koalition hat sich auf gemischte Lyzeen, differenzierte Sprachanforderungen sowie mehr Kompetenzen-Lernen verständigt und dafür sogar ein neues Wortungetüm kreiert: den Tronc commun des compétences indispensables. Aber was damit genau gemeint ist, weiß keiner so recht – und als die Ideen zum Sprachenunterricht zum ersten Mal publik wurden, hat das direkt einen Aufschrei bei den Gewerkschaften und den Sprachlehrern provoziert.
Umso mehr bemüht sich das Ministerium nun um Verständigung. Auf den Regionalkonferenzen habe sich Mady Delvaux-Stehres zurückgehalten, sagen Insider und bescheinigen ihr „aufrichtiges Zuhören“. Zum Classique hat sich die Ministerin kaum geäußert – und sie tut gut daran: Die Idee, nach der Primärschule den kompetenzorientierten Ansatz bis in die oberen Klassen des Sekundarunterrichts fortzusetzen, leuchtet aus Kohärenzgründen ein, zumal im Rahmen von Bologna verstärkt von Kompetenz und anwendungsorientiertes Wissen die Rede ist. Dass die Naturwissenschaften das Stiefkind im mehrsprachigen System sind, ist unstrittig.
Dennoch liegen bislang wenig Fakten auf dem Tisch. Abgesehen von den hohen Durchfallquoten in den 10e und den verbesserungswürdigen Leistungen der besten Schüler bei Pisa-Luxemburg gibt es kaum Analysen – oder sie sind nicht öffentlich. Sogar darüber, wie sich Luxemburgs Studenten im Aus- und Inland an den Unis durchschlagen, fehlen Erkenntnisse. Länder wie die Schweiz als Vorbild zu nehmen, ist schon deshalb schwierig, weil deren Abiturienten oft im eigenen Land studieren, anders als in Luxemburg mit seiner hohen Studentenmobilität. Unirektor Rolf Tarrach mag freimütig bekennen, er sei kein Experte für Sekundarschulreformen, und Verständnis dafür ernten. Aber wenn Schulen und Ministerium die Rolle auch nicht übernehmen können, wer kann es dann?
1 Die Papiere können unter http://www.men.public.lu/priorites/reforme_classes_superieures/090723_bibliotheque/prises_position_lycees/index.html eingesehen werden.