Alternative Medizin

Zulassen ja, bezahlen vielleicht

d'Lëtzebuerger Land vom 17.04.2003

Einige Unruhe auf den Chamber-Bänken der Koalitionsparteien gab es vor zwei Jahren, als der ADR-Naturmediziner Jean Colombera CSV und DP ihre Wahlkampfaussagen unter die Nase rieb. "Neben der klassischen Medizin gibt es eine Reihe von alternativen Heilmethoden, auf die viele Menschen vertrauen. Die CSV ist für die Therapiefreiheit, deshalb sollten bewährte Heilverfahren wie Homöopathie und Akupunktur eine legale Basis erhalten." Der DP war es "wichtig, dass neben der klassischen Schulmedizin auch erprobte Parallelmedizinen samt ihrer Pharmazeutika hierzulande zugelassen und wenigstens zum Teil von der Sozialversicherung getragen werden."

 

Seit Ende letzten Jahres diskutiert der Gesundheits- und Sozialausschuss des Parlaments das Thema. Besser: Er bereitet eine Orientierungsdebatte vor, die noch vor den Sommerferien stattfinden und, so der Ausschussvorsitzende Niki Bettendorf (DP), "klären soll, welche politischen Schritte wir unternehmen könnten". Könnten. Ganz vorsichtig versteht man jene Passage aus dem Koalitionsabkommen, in der es heißt: "Le gouvernement entend procéder tout en évitant des abus possibles à la reconnaissance de certaines formes de médecine alternative et envisage une éventuelle intégration des traitements et médicaments dans la liste des actes et médicaments remboursés par la sécurité sociale."

 

Denn es gibt einerseits eine Nachfrage dafür, mit der die Luxemburger Bevölkerung sich in guter Gesellschaft anderer Länder befindet. Rund ein Drittel, ergab eine ILReS-Umfrage 1993, nehmen die so genannte Alternativmedizin in Anspruch oder möchten das tun. Laut Weltgesundheitsorganisation hatten 1998 rund 70 Prozent aller Kanadier, 48 Prozent der Australier, 49 Prozent der Franzosen und 42 Prozent der US-Amerikaner sie wenigstens einmal genutzt. Bei einer in Belgien von Le Soir im gleichen Jahr durchgeführten Umfrage hatten 40 Prozent der Befragten die Alternativmedizin schon probiert. 72 Prozent vertrauten generell weiterhin der Schulmedizin, aber auch von ihnen wollten 70 Prozent nicht ausschließen, einmal von der Alternativmedizin Gebrauch zu machen.

 

Eine EU-weit einheitliche Regelung gibt es bisher nicht, wenngleich das Europaparlament sie 1997 schon wegen der im Maastricht-Vertrag fixierten Freiheit der Dienstleistungen forderte. Hatten doch im Laufe der 90-er Jahre verschiedene Länder für verschiedene Disziplinen eine Zulassungbasis geschaffen. Vor allem für Ostheopathie und Chiropraktik - spezielle von Hand ausgeführte Manipulationsmethoden am Bewegungsapparat zur Lösung von Blockierungen -, zum Teil aber auch für Akupunktur und Homöopathie. Belgien etwa gab sich 1999 ein Rahmengesetz, das die Ausübung von Ostheopathie, Chiropraktik, Akupunktur und Homöopathie regeln soll.

 

Die belgische Gesetzgebung steht gewissermaßen auch Pate bei den Diskussionen im Luxemburger Gesundheitsausschuss. "Pragmatisch", sagt das Ausschussmitglied der Grünen, Jean Huss, konzentriere man sich auf die vier im Nachbarland anerkannten Disziplinen, weil man davon ausgehe, dass sie auch hierzulande am häufigsten nachgefragt und praktiziert werden. Obwohl das eigentlich niemand so genau weiß: Da sie nicht anerkannt sind, gibt es auch kein Register eventuell homöopathisch oder mit Akupunktur, Ostheopathie und Chiropraktik arbeitender Ärzte, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. Auf "vielleicht fünf" schätzt Joe Wirtz, Präsident der Ärztegewerkschaft AMMD, ihre Zahl; beim Collège médical, dem Kontrollorgan der Ärzteschaft, geht man von rund 20 aus.

 

So kommt es, dass auf Mundpropaganda, Empfehlungen aus dem Bekanntenkreis oder vielleicht eines Arztes angewiesen ist, wer eine Alternativbehandlung wünscht: Die geltende Gesetzgebung toleriert sie; ein Gesetz aus dem Jahr 1983 gestattet dem Arzt, im Grunde alles zu tun: "actes personnels, consultations verbales ou écrites et tout autre procède quel qu'il soit". Ein großherzogliches Reglement von 1997 aber untersagt dem Arzt, mit einer Spezialisierung zu werben, die nicht anerkannt ist. Entsprechend eng ist folgerichtig die Krankenkassennomenklatur, welche die rückzuerstattenden Behandlungsakte festhält: Es gibt mit der Kassenunion konventionierte Kinésitherapeuten, die Ostheopathie oder Chiropraktik ausüben - wieviele, ist offziell unbekannt -, aber dafür keine Extravergütung erhalten. Ärzte bekommen für "manuelle" Akte, unter die auch Ostheopathie und Chiropraktik fallen können, eine geringfügige Kostenerstattung. Mehr gibt es nicht.

 

Denn da ist dieses Andererseits - die Forderung nach der wissenschaftlich bewiesenen Wirksamkeit alternativer Behandlungsmethoden. "Komplementär" will sie der Gesundheits- und Sozialausschuss lieber nennen, um keinen Grundsatzkonflikt mit der Ärzteschaft herauf zu beschwören. Der schwelt bereits seit Jahren, seit der Debatte Mitte der 80-er um die Einrichtung einer Klinik für "sanfte Medizin" in Mondorf, verstärkt um die Affäre der Geistheiler auf dem Meelickshaff wenig später. Anfang der 90-er Jahre kam auch der damalige sozialistische Gesundheitsminister Johny Lahure nicht weit, als er für eine eventuelle Zulassung der Alternativmedizin eine gemischte Arbeitsgruppe zusammenrufen wollte, der Collège médical sich dem aber standhaft verweigerte. Noch stets waren für das Aufsichts- und Disziplinargremium der Mediziner alternative Behandlungsverfahren "Scharlatanismus";  der Code de déontologie verbietet es, Behandlungen vorzunehmen, die nicht auf wissenschaftlich nachweisbaren Erkenntnissen basieren. Einzige Hintertür für den sowohl deontologisch bewussten wie auch den Wünschen seines Patienten gegenüber aufgeschlossenen Arzt: "Lorsque pour des raison découlant du psychisme particulier d'un patient, le médecin estime ne pas pouvoir se passer d'un tel geste isolé, il peut ne pas être considéré comme fautif."

 

Es ist eine Wissenschaftsdiskussion, die der Chamber-Ausschuss führen muss. "Wir Ärzte", sagt Marco Schroell, Mediziner, Auschussmitglied der DP und Gegner einer offiziellen Anerkennung der Alternativmedizin, "haben mal gelernt, dass wir uns an die Erkenntnisse der evidence based medicine zu halten haben." Deren Testergebnisse sind insbesondere für die Homöopathie von Belang, die Medikamentendosen verabreicht, die kein aktives Molekül mehr enthalten. Von der Unterstel-lung, einen Placebo-Effekt zu erzeugen, haben sie sie noch nicht befreien können: In einem Doppelblindversuch erhält von zwei Patientengruppen die ei-ne ein wirksames Medikament, die andere ein Placebo. Weder die Patienten wissen, was sie schlucken, noch die Ärzte, was sie verabreicht haben. Anschließend wird verglichen, welche Wirkung die Präparate hatten. Aber auch Akupunktur oder die manuellen Techniken müs-sen sich Experimenten stellen, bei denen das Descartes'sche Diktum gilt: "Es existiert nur, was sich messen, zählen und wägen lässt."

 

Für Jean Huss ist das ein "Tunnelblick". Er verweist auf Beispiele aus der Wissenschaftsliteratur, die belegen, dass etwa von den rund 30 000 Behandlungsmethoden, die der Psychrembel, das Standard-Nachschlagewerk für Ärzte, auflistet, allenfalls 15 Prozent untersucht sind, und nur vier Prozent wissenschaftlich exakt. Darüberhinaus kam die US-amerikanischen Yale-Universität vor zwei Jahren zu dem Ergebnis, dass die "Beobachtung" von Therapieerfolgen sinnvoller sei als die Forderung nach Re-produzierbarkeit: zu individuell reagiere der Mensch. Und obendrein würden Doppelblindstudien häufig in enger Allinaz von Pharmaunternehmen und Versicherungsgesellschaften vorgenommen und seien damit interessengeleitet.

 

Zweimal drei ausländische Experten, jeweils aus dem Pro- und dem Contra-Lager den komplementären Heilverfahren gegenüber, hat der Gesundheitsausschuss zur Anhörung eingeladen, denn im akademisch wenig vorbelasteten Großherzogtum sind unabhängige Expertisen schwer zu haben. Marco Schroell, neben seinem Parteikollegen Alexandre Krieps und Jean Colombera der einzige Mediziner im Ausschuss, möchte auch nach allem Gehörten lieber bei der derzeit gepflegten Tolerierungspraxis bleiben, "wenngleich das meine persönliche Meinung ist und sich die DP-Fraktion dazu noch nicht festgelegt hat".

 

Standesdünkel? - Vielleicht. Immerhin hält selbst die Weltgesundheitsorganisation etwa die wissenschaftliche Evidenz für Akupunktur mittlerweile für "stark" (Traditional Medicine - Growing Needs and Potential, 2. Juni 2002). Für das Luxemburger Gesundheits- und Sozialsystem hat die Frage der Zulassung der Komplementärmedizin aber gerade gegenwärtig sozialpolitisch weit reichende Implikationen. Abgezeichnet hatte sich das bereits im letzten Jahr, als das Parlament das Gesetz über die Positivliste für Medikamente verabschiedete: Getreu den Vorgaben der evidence based medicine, dürfen Arzneien ohne wissenschaftliche Prüfbasis nicht mehr von den Kassen rückerstattet werden dürfen. Buchstabengetreu entfernte die Generalversammlung der Krankenkassenunion letzten Herbst die wenigen von ihr bis dahin zum Teil rückerstatteten homöopathischen Medikamente von der Nomenklaturliste, obwohl ihr Gesamtbetrag von 65 000 Euro im letzten Rechnungsjahr kaum ins Gewicht fiel. Zwar erklärte Gesundheitsminister Carlo Wagner wenige Wochen später im Parlament, er werde sich persönlich dafür einsetzen, die Regelung wieder rückgängig zu machen. Aber dass er es noch nicht getan hat, könnte einen guten Grund haben: Die Evidenz-Forderung wäre damit aufgeweicht, die Komplementärmedizin hoffähiger.

 

Doch: Mögen die Nachbarländer sich auch Gesetze gegeben haben, die die Zulassung komplementärer Heilverfahren regeln; mag auch Belgien es nach jahrelangem Gezerre im vergangenen Sommer geschafft haben, erste Ausführungsbestimmungen zum Rahmengesetz über die Komplemetärmedizin zu erlassen - über die Kostenerstattung sagt dieses Gesetz kein Wort, und die Mutualitätskassen Belgiens bieten sie nur im Rahmen von Zusatzversicherungen an.

 

Die Rückerstattungsfrage ist es, die die Debatte in Luxemburg politisch heikel macht, zumal, da die Forderungen aus der Ärzteschaft nach Honoraraufbesserung noch im Raum stehen. "Gerade Homöopathie und Akupunktur könnten chronisch Kranken helfen und die Kassen entlasten", sagt Jean Huss. Doch inwiefern die Zahl der chronisch Kranken wächst und welche Auswirkungen das auf die Kassenbudgets hat, wurde bislang ebensowenig untersucht, wie unbekannt ist, welchen Kostenpunkt die Aufnahme komplementärmedizinischer Leistungen in die Kassennomenklatur hätte.

 

Zusatzversicherungen dafür wären politisch wohl schwer durchsetzbar: Sie kämen der AMMD, für die eine freiwillige Konventionierung der Ärzte und die Einführung von Privatbehandlungen wenn nicht heute, dann in naher Zukunft kommen muss, sicherlich nicht ungelegen, würden aber die Debatte um eine Zwei-Klassen-Medizin anheizen, was vor den Wahlen niemand wollen kann. Carlo Wagner ist ihr aus dem Weg gegangen, indem er mit der AMMD insbesondere die Aufstockung der Honorare für Konsultationen ausgehandelt hat.

 

Noch ist die nicht endgültig entschieden, aber im Gespräch ist darüberhinaus unter anderem die Einführung des Schweizer "Tranchen-Modells", das Konsultationen nicht pauschal, sondern in Fünf-Minuten-Tranchen abrechnet. Würde es eingeführt, könnte es weiterer Tolerierung der Komplementärmedizin Vorschub leisten: dauern doch Alternativ-Behandlungen vor allem länger. Und so könnte es sein, dass auch die Orientierungsdebatte im Parlament am Ende keine konkreten Ergebnisse bringt, ein Luxemburger Patient jedoch bei Homöopathen nicht mehr aus eigener Tasche bis zu 50 Euro zuzahlen müsste. Was natürlich wiederum offiziell niemand weiß ...

 

Peter Feist
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