Heute loben wir die Wonnen der Bürokratie. „Ich finde, dass man in der Schule einen guten Lehrer und eine nicht zu große Klasse braucht, alles andere ist überflüssig“, schreibt Harald Martenstein in einer Kolumne über den grotesken Fortschrittswahn (ZEIT-Magazin 51/2010). Mit diesem Satz trifft er genau Ursprung und Kern der Lehrtätigkeit. Schüler unterrichten ist eine hoch komplizierte, sicher intime, fast schon private Tätigkeit. Wer den Unterricht normieren, also bürokratisch überhöhen möchte, kann sicher sein, dass er zuerst das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden aufs Spiel setzt.
Die Unterrichtsministerin versteht das „Granzen“ der Lehrerschaft, wie sie kürzlich bei einer Versammlung bekannte. „Granzen“ klingt ganz nach unwilligen, arbeitsscheuen, unaufgeschlossenen, widerspenstigen Gesellinnen und Gesellen, die partout die Segnungen der Delvaux’schen Schulreform nicht einsehen wollen. Der „Granzert“ ist ein Verweigerer aus Prinzip, ein Quertreiber, der aus Faulheit die neuen Verordnungen torpediert. „Aber Berichte müssen nun einmal geschrieben werden“, fährt die Ministerin fort. Somit bestätigt sie, dass sie all die „Granzerten“, die sich über den Zwang zum ständigen Berichten ereifern, bestenfalls für Unbotmäßige hält, die sich an ministeriellen Verfügungen reiben.
„Aber Berichte müssen nun einmal geschrieben werden.“ Das ist eine interessante Aussage. Die Unterrichtsministerin entstammt einem Schulsystem, in dem Berichte weder geschrieben wurden noch geschrieben werden mussten. Mit diesem berichtsfreien Schulsystem hat sie es bis zur Ministerin gebracht. Woher kommt dann plötzlich die Verpflichtung zum Berichten? Aus welcher behaupteten Notlage? Zu welchem Zweck? Dieses imperative „nun einmal“ der Ministerin kann schon allein aus dem Grund nicht stimmen, dass sie selber eine Schule ohne Berichte völlig heil überstanden hat.
Die „Granzerten“ in den Schulen haben genau erkannt, wobei es beim unaufhörlichen Verfassen von Berichten geht: um reine Schikane. Die Lehrer sollen endlich „arbeiten“, wobei die Ministerin leider unterstellt, zuvor hätten sie nicht gearbeitet, ihre eigenen Lehrer eingeschlossen. Mit dieser Unterstellung diskreditiert sie ganze Generationen von Lehrern. Sie vernichtet im Nachhinein deren Motivation. Jeder Firmenchef weiß, dass ohne motivierte Mitarbeiter nichts läuft im Betrieb. Das Unterrichtswesen ist eine riesige Firma, die zur Zeit von der Chefin ruiniert wird. Indem sie die Lehrer zu Tätigkeiten zwingt, die mit dem Vermitteln von Wissen in der Klasse rein gar nichts zu tun haben und nur wertvolle Energien verpulvern, mindert sie auf dramatische Weise die Qualität des Unterrichts. Jeder weiß: Kein Mensch liest die zahllosen Berichte, die abgeliefert werden müssen. Ebenso klar ist, dass es Mittel und Wege gibt, ideale und stromlinienförmige Berichte einzureichen. Kein Mensch wird herausfinden, wo und wie geschönt wurde, aus reinem ras-le-bol-Reflex.
In spätestens zehn Jahren wird die nächste umfassende Schulreform das Delvaux’sche Bürokratisierungswerk zur Spinnerei erklären, zum gefährlichen Unsinn, dem zehn Schülerjahrgänge geopfert wurden. Die nächste Reform wird wieder einmal der Gipfel des Fortschritts sein. Bis zur übernächsten Reform, die dann genau so selbstverständlich alles Vorhergehende wieder zum gravierenden Irrtum stempelt. Daraus lernen wir: Die Unterrichtsministerin ist nicht in der Lage, sich selber als ein Zeitphänomen zu begreifen. Also als prekäre, vorübergehende Erscheinung. Insofern haben weitsichtige Lehrer, die Schule als einen langen und langsamen Prozess verstehen, recht mit ihren massiven Beschwerden über kurzfristig verordneten bürokratischen Übereifer.
Natürlich gibt es Situationen, in denen ein kleiner Bericht nicht schaden kann. Einfach nur, um herausragendes Unvermögen festzuhalten. Als Warnung an mögliche Nachahmer. Wenn das Unterrichtsministerium beispielsweise an der einfachen Aufgabe scheitert, eine Anthologie mit literarischen Texten herauszugeben, wäre wirklich ein audit angebracht, um herauszufinden, was all diese Dilettanten eigentlich ins Herz der schulischen Bürokratie verschlagen hat. Hier halten jene Herrschaften Hof, die alle Lehrer des Landes zu strikt bürokratischem Benehmen anhalten. Sie selber aber versagen schon bei einer lächerlichen administrativen Maßnahme. Was ein einigermaßen geübter Verleger an einem einzigen Tag schafft, nämlich sich mit Kollegen und Autoren verbindlich abzusprechen über Rechte und Pflichten, das bringt die Unterrichtsministerin mit ihren Gehilfen selbst nach jahrelangem Gebastel einfach nicht über die Runden.
Wieso eigentlich sollten die Lehrer bürokratische Befehle aus diesem Ministerium ausführen? Die Schule ist „nun einmal“ keine Amtsstube. Ein Schulsaal ist im besten Wortsinn eine offene Struktur. Die Verwaltungsfanatiker und Kontrolleure der Ministerin dürfen sich ruhig ganztägig auf dem Pausenhof versammeln. Und sich gegenseitig Berichte schreiben.
Guy Rewenig
Catégories: Made in Happyland
Édition: 16.12.2010