Reform der Orientierungsprozedur nach der Grundschule

Schülerlotto

d'Lëtzebuerger Land vom 10.12.2009

Reichen gute und sehr gute Noten aus, um ein klassisches Gymnasium zu besuchen? Oder was muss ein Grundschüler können, um die begehrte Empfehlung zu bekommen? Darüber streiten zwei Elternpaare vielleicht demnächst vor dem Verwaltungsgericht. Ihre Söhne hatten die sechste Klasse der Primärschule erfolgreich abgeschlossen, mit guten, wenngleich nicht exzellenten Leistungen. Weil nichts und niemand auf Lernprobleme hindeutete, gingen die Schüler davon aus, das nächste Schuljahr am klassischen Lyzeum ihrer Wahl beginnen zu können. Bis das Urteil des Conseil d’orientation sie jäh aus ihren Träumen riss: Die schulischen Leistungen reichten nur fürs technisches Gymnasium, befand der Rat kurz und knapp.

Die Familien verstanden die Welt nicht mehr, zumal Klassenkameraden mit gleichem Notendurchschnitt die Empfehlung bekamen und die Klassenlehrerin den Jungen gutes Lernen bescheinigt hatte. Durch das Nachexamen, letzte Chance, um doch noch fürs Classique zugelassen zu werden, fielen die Jungen durch – zum Erstaunen der Eltern aber nicht in den Fächern, in denen zuvor Schwächen festgestellt worden waren, sondern in anderen. Was für das Ministerium eine klare Sache ist – die Orientierung sei gesetzlich bindend –, wollen die Eltern nicht akzeptieren: Die Empfehlung des Conseil d’orientation sei nicht transparent gewesen. Jetzt sollen die Verwaltungsrichter urteilen.

Ganz gleich, ob die Familien mit ihrem Einspruch Erfolg haben werden oder nicht, der Fall ist bemerkenswert. Bis zu 5 000 Kinder jährlich müssen sich am Ende der sechsten Grundschulklasse dem Urteil des aus Klassenlehrer, Sekundarschullehrern, Inspektorat und Schulpsychologen bestehenden Rates stellen – also jeder, der in Luxemburg in die Schule geht und eine weiterführende Schule be­suchen will. Der Conseil d’orientation empfiehlt den künftigen Schultyp auf der Basis von Lernstandserhebungen (Épreuves standardisées), Noten, Elterngutachten und Beobachtungen zum Lernverhalten und zur Entwicklung – ob damit die realen Potenziale der Jugendlichen erkannt werden, ist aber zweifelhaft.

Denn die Chancen, in höhere Bildungswege aufzusteigen, sind nicht für alle gleich, das hat Pisa 2006 gezeigt: Nur 40 Prozent der Jugendlichen aus sozial schwachen Familien schafft es in den Classique (ES), ihr Anteil im Technique (EST) beträgt 75 Prozent, im Préparatoire sogar 81 Prozent. Ähnlich ist es für Kinder mit Migra­tionshintergrund (18 Prozent im ES, 68 Prozent im Préparatoire). Pikant: Die Familiennamen der Schüler, deren Eltern die Zwangs-Empfehlung juristisch anfechten, weisen sie als Kinder von Einwanderern aus. Die Schlüsselfrage lautet also: Wie gerecht und wie zuverlässig ist der Avis d’orientation des Rates? Und wie verbindlich?

In Deutschland wurden dieses Jahr zwei Studien zur Grundschulempfehlung veröffentlicht. Beide stellen den Expertenempfehlungen desaströse Zeugnisse aus: Mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler würden fehlgeleitet, so der Er­ziehungswissenschaftler Joachim Tiedemann in seiner Hannoverschen Grundschulstudie. Wegen der hohen Fehlerquote fordert der Forscher, besser keine Empfehlung auszusprechen oder wenn, dann später. In Niedersachsen werden die Kinder nach der vierten Klasse orientiert. Zuvor hatten Forscher des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Ähnliches beobachtet: In Deutschland werden Kinder von Nicht-Akademikern deutlich seltener für das Gymnasium empfohlen – bei gleicher schulischer Leistung. Sind in einer Klasse viele gute Schüler, sinken die Chancen noch, eine Empfehlung fürs Abitur zu bekommen. Nach den Ergebnissen der Iglu-Grundschulstudie 2004 war sogar jeder zweite Schüler im Nachbarland fehlorientiert.

In Luxemburg gibt es bisher kaum unabhängige Untersuchungen über die Zuverlässigkeit der Orientierungsempfehlungen. Einer ministeriellen Studie aus dem Jahr 2006 über Le passage primaire post-primaire. Analyse de la procédure d’orientation zufolge besuchten rund 75 Prozent der Schüler, denen das klassische Gymnasium empfohlen wurde, drei Jahre später eine 5e classique, hatten also keine Klasse wiederholt. Dass „ces élèves ont progressé normalement dans l’ordre d’enseignement qui leur a été conseillé“, werten die Autoren als Beleg für die „pertinence des critères“ des 1996 neu eingeführten Verfahrens. Im technischen Unterricht liegt die Erfolgsquote niedriger: Drei Jahre später waren 68 Prozent der Schüler noch im EST, die anderen besuchten niedrige Klassenstufen oder hatten die Schule in Richtung Ausland verlassen. Mit der Generalisierung des Proci-Konzeptes ist der Verbleib im Schultyp als Beleg für eine erfolgreiche Empfehlung allerdings hinfällig: Sitzenbleiben ist im unteren Zyklus nur noch im Ausnahmefall erlaubt. Wer einmal zugeordnet ist, bleibt meistens auch da: Den Aufstieg vom EST ins ES schafften vergangenes Jahr gerade einmal 0,6 Prozent. Nach unten geht’s leichter: Vier Prozent der Schüler verließen den Classique in Richtung Technique.

Man braucht aber nicht einmal mehr Studien, um eine Schieflage schon jetzt zu erkennen: Auch hierzulande ist die soziale Herkunft für die schulische Weichenstellung der Kinder entscheidend. Es beginnt in der Grundschule, setzt sich in der Sekundarstufe fort und wirkt sich auf die Berufswahl aus. Das Unterrichtsministerium kennt die Fakten und hat darauf reagiert, in dem es die Grundschulen reformiert. Mehr Differenzierung, eine individuellere, intensivere Förderung und eine neue, lernprozessorientierte Bewertung sollen helfen, die Schüler besser als bisher zu unterstützen und mehr von ihnen den Zugang zum Abitur zu ermöglichen. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen untersagte Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) Hausaufgaben in den ersten beiden Grundschuljahren, „weil in vielen Familien zuhause keiner da ist, der die Arbeit begleiten kann“. Ein wichtiges Signal gegen die strukturelle Diskriminierung, das leider bis heute noch nicht überall verstanden wird.

An die Orientierung hat sich die Ministerin bisher nicht gewagt. Das Regierungsprogramm verspricht zwar, „la procédure d’orientation de l’en­seignement fondamental vers le secondaire sera réaménagée“. Insbesondere das Gewicht der Sprachen soll verringert werden. Das reiht sich ein in die Logik, Sprachkompetenzen zu differenzieren und die Ansprüche an die Mehrsprachigkeit herunterzuschrauben, um auch sprachlich weniger Talentierten eine Chance auf ein Abitur zu geben. Derzeit sei man jedoch „vollauf mit den Reformen in der Grundschule beschäftigt“, so Guy Strauss, Inspektor und Leiter des Grundschulabteilung im Unterrichtsministerium. Spätestens wenn die neue Bewertungsmethode auf die oberen Zyklen der École fondamentale ausgedehnt werde, werde man die Orientierungsprozedur anpassen, sagt Strauss. Das wäre 2011.

Vermutlich käme es der Ministerin sogar ganz gelegen, wenn bis dahin ein Gericht die Unzulässigkeit des ­jetzigen Verfahrens feststellen würde. Das würde den politischen Handlungsbedarf erhöhen – und dem ­Widerstand gegen eine Reform der Orientierung zumindest ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen. Dass der kräftiger blasen könnte als bei der Grundschulreform, ist wahrscheinlich: Auch wenn die Grundschulen und der untere Zyklus des EST auf Kompetenzen umstellen – die meisten klassischen Lyzeen sind von dem Ansatz weit entfernt. Und sie haben die stärkste Lobby. In Deutschland, wo seit dem Pisa-Schock viele Bundesländer ihre Bildungssysteme von Grund auf überdenken, ist der Übergang in die weiterführenden Schulen zum Zankapfel Nummer eins geworden: In Hamburg, wo eine schwarz-grüne Koalition ein Zwei-Säulen-System – ohne Hauptschule – einführen und das Elternrecht der Schultyp-Wahlfreiheit einschränken will, hagelte es Proteste. Ebenso in Berlin, wo die Regierung überlegt, den Zugang zu beliebten Oberschulen per Los zu entscheiden. Wer genau hinschaut, stellt fest: Nicht alle Eltern gehen auf die Barrikaden, sondern vor allem die der Mittelschicht. Sie wissen genau, wie wichtig die Empfehlung für das weitere Leben ihrer Kleinen ist und wie sehr sie vom bis­herigen Modus profitieren. Entsprechend heftig wehren sie sich. Die Verlierer, die Arbeiter- und Mirgrantenkinder, haben diese Lobby nicht.

Auf das Elternwahlrecht zu pochen, wie es die Elterndachorganisation Fapel macht, oder das alte Zugangsexamen zu fordern, wird die soziale Ungerechtigkeit aber nicht eliminieren, sondern, im Gegenteil, die Diskriminierung verschlimmern: Wer daheim Eltern hat, die ihn oder sie beim Lernen unterstützen, hat höhere Erfolgs-chancen. Ein Examen sagt wenig über das Lernpotenzial eines Schülers aus: Wer an dem Tag nicht in Hochform ist, hat Pech gehabt. Das war der Grund, warum der Conseil d’orientation eingeführt wurde: Experten aus der Schule sollten gemeinsam über die Kompetenzen eines Schülers beraten, der selbst nicht gehört wird und dessen Eltern von den Sitzungen ausgeschlossen sind, und so zu einem fundierten nuancierten Urteil über dessen Lernpotenzial kommen. Klingt prima in der Theorie, funktioniert in der Praxis aber nicht: „Si nous voulons (...) réaliser une orientation par profil qui ait pour objectif de documenter aussi précisement que possible les forces et les faiblesses des élèves et de coupler ce profil avec les aspirations professionnelles des l’élève, afin de pouvoir lui proposer un cursus scolaire adéquat, nous devons malheureusement constater que nous sommes toujours très loin de ce type d’orientation“, hieß es in der Studie selbstkritisch. Eher scheinen verdeckte Vorstellungen von Intelligenz die Empfehlung der Experten zu beeinflussen – dabei sieht das Verfahren gar keine Intelligenztests vor.

Die Black Box Conseil d’orientation ist noch aus einem anderen Grund zu hinterfragen: Weil mindestens drei Teilnehmer des Conseil den Schüler gar nicht kennen, über dessen Zukunft sie entscheiden, erhalten „messbare“ Kriterien, wie Épreuves und Punkte, umso mehr Gewicht. Auch das bestätigte die Studie. Mit neuen Bewertungsmitteln, wie Lerntagebücher und Portfolio, mag sich das vielleicht ändern, aber bis die sich etabliert haben, wird es noch ein Weile dauern – und dann müssten auch Sekundarschullehrer diese Instrumente interpretieren lernen. Die wenigsten Lehrer aber sind in Diagnose- und Prognosekompetenz ausgebildet. Die skeptischen Reaktionen auf die neue kompetenzorientierte Bewertung zeigen zudem, wie sehr die fachliche Reflexion der oft behaupteten, wissenschaftlich aber längst widerlegten „Objektivität“ und Aussagekraft von Noten hierzulande noch gegenüber dem Ausland hinterherhinkt.

Nur: Wenn weder der Lehrer, noch die Eltern kompetent und gerecht orientieren können, und wenn die Weichenstellung so selektiv ist und Bildungschancen einer Bevölkerungs­gruppe dauerhaft verbaut, bleibt am Ende eigentlich nur: gar nicht zu ­orientieren. Vielleicht hatten die Stimmen, die in den 1970-er Jahren die Schule für alle forderten, gar nicht so Unrecht.

Ines Kurschat
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