Landtagswahl in Thüringen

Ausgewählt

d'Lëtzebuerger Land du 08.11.2019

In der politischen Philosophie gibt es die Theorie des umgekehrten Hufeisens. Entwickelt hat sie der Extremismusforscher Eckhard Jesse. Seine Annahme war, dass Extremisten – welchen politischen Spektrums auch immer – sich oftmals in ihren Ansichten näher sind, als es Schnittmengen mit der sogenannten gesellschaftlichen Mitte gibt. Als Sinnbild wählte Jesse dazu das Hufeisen. Kehrt man dieses um und hält die offene Seite zu sich, besagt die Weiterführung der Theorie, verkürzt und verknappt, dass man im politischen Spektrum so weit nach links laufen kann, bis man rechts rauskommt und umgekehrt. In der Mitte hingegen klafft eine Lücke, ein Loch. Denn nach diesem Modell ist die gesellschaftliche wie politische Mitte eine Chimäre, vielleicht auch ein Idealbild. Ein Lehrstück zu dieser Theorie liefert derzeit die politische Szene Thüringens. Nach der Landtagswahl vor knapp zwei Wochen sind die Möglichkeiten zur Bildung einer Regierung begrenzt. Die Christdemokraten würden zu gerne wieder im Erfurter Landtag am Ruder sitzen, doch müssten sie dazu entweder mit der Linken oder der AfD koalieren.

Mike Mohring, Spitzenkandidat der CDU in Thüringen, hat einen verkorksten Wahlkampf hingelegt. Er hat die Kampagne ganz und gar auf seine Person zuschneiden lassen, was ihm die Thüringer nicht abnahmen. Dafür gab es am Wahltag die Quittung: Die CDU fuhr das schlechteste Ergebnis in diesem Bundesland ein und schmierte ab auf Platz 3, hinter Linke und AfD. Mit beiden Parteien könnte die nun eine Regierung bilden, wenn denn auch die FDP ins AfD-Boot stiege. Doch Annegret Kramp-Karrenbauer, Chefin der Christdemokraten in Berlin, hat die Parole ausgegeben, dass dies eine Wahl zwischen Pest und Cholera sei – und verboten.

Dennoch ließ Mohring bereits am Tag nach der Wahl den Testballon starten, indem er sich bereit zeigte für Gespräche mit den Linken. Sein Stellvertreter im Fraktionsvorsitz Michael Heym signalisierte wenig später Koalitionsbereitschaft mit der AfD. Und legte nach: Zu Wochenbeginn haben 17 Thüringer CDU-Funktionäre ihre Bereitschaft zu Gesprächen mit der von Björn Höcke geführten AfD in Thüringen gefordert. Überschrift des Offenen Briefs: „Demokratie braucht Dialog“. Die Funktionäre empfinden es demnach als undenkbar, dass „fast ein Viertel der Wähler“ in Thüringen „bei den Gesprächen außen vor bleiben soll“. Zu den Unterzeichnern des Briefs gehören vor allem Unterstützer und Vertraute von Heym. Diese gehören teilweise auch zum Umfeld der „Werte-Union“, die sich am rechten Rand von CDU und CSU positioniert.

In der CDU liegen nun die Nerven blank. Wie hält man es mit den extremistischen Enden des politischen Spektrums? Marco Wanderwitz, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium und CDU-Bundestagsabgeordneter aus Sachsen twitterten dazu: „Wir Christdemokraten grenzen uns nach rechts- wie linksradikal klar ab. Die AfD ist keine bürgerliche Partei. Die Zahl ihrer Wählerinnen und Wähler ist kein Argument. Eine Partei wird nicht durch Wahl demokratisch.“

Der politische Kompagnon wie der politische Gegner ließen nicht lange auf sich warten: SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil forderte die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer zum Einschreiten auf: „Die Brandmauer gegen Rechts in der CDU bekommt schwere Risse. Ich frage mich, wann die Parteiführung in Berlin endlich mal hart durchgreift gegen diejenigen in den eigenen Reihen, die den Rechtsextremen offen die Hand ausstrecken.“ Der ständige Verweis auf einen alten Parteitagsbeschluss als Abgrenzung reiche da nicht mehr aus. Die thüringische Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne) warb für Gespräche der bisherigen Koalition in Erfurt aus Linke, SPD und Grünen mit den Christdemokraten: Richtig sei, dass Demokratie Dialog erfordere, doch könne dieser nur unter demokratischen Parteien stattfinden: „Wer rechts abbiegt, spielt mit dem Feuer und der Zukunft des Landes.“

Doch die Christdemokraten streiten auch darüber, ob sie nicht aus Staatsräson mit den Linken zumindest Gespräche führen müssten – dem politischen Erzfeind. Laut einer Umfrage des Fernsehsenders RTL spricht sich eine deutliche Mehrheit der Menschen in Deutschland für eine Zusammenarbeit von CDU und Linkspartei aus. 79 Prozent aller Wahlberechtigten würden dies begrüßen. In Thüringen stimmten sogar 91 Prozent der Befragten dafür. Wie es anders laufen kann, zeigte Michael Kretschmer, Ministerpräsident Sachsens. Auch er musste sich in diesem Herbst dem Votum der Wähler stellen. Auch er musste Verluste hinnehmen, konnte aber die Position der CDU behaupten. Sein Wahlkampf war auf Inhalte ausgerichtet und auf konservative Positionen abseits des rechten Extremismus.

Letztendlich ist aber Annegret Kramp-Karrenbauer gefordert, die als Parteichefin die Richtungskompetenz hat. Sie muss ihrer Partei einen klaren Kurs, ein Profil und damit auch klare Kante geben. Ihr ungeschickter Einstieg in ihr Amt offenbart die inhaltliche wie programmatische Leere, in der sich die Partei befindet. Für Thüringen kann es nur einen Ausweg geben. Das heißt, das Land muss sich auf das Wagnis einer Minderheitsregierung einlassen, um in der Suche nach geeigneten Mehrheiten für politische Programme zu wachsen. Der vereinzelte Ruf nach Neuwahlen ist die schlechteste aller Optionen, denn das Volk als Souverän kann nicht so lange abstimmen, bis es den Politikern endlich passt.

Martin Theobald
© 2024 d’Lëtzebuerger Land