Über die bizarren Bilder des simulierten Attentats in der Rockhal

Kunst und Blut

d'Lëtzebuerger Land vom 18.01.2019

Morgens, halb elf in Luxemburg: Die Visagisten machen Pause, der DJ legt auf, die Crowd wippt, die Sturmmasken werden übergestreift. Die Simulation kann beginnen. In der Rockhal wurde vergangenen Samstag eine großangelegte Terrorübung durchgeführt, an der die Polizei ebenso wie die Notfalldienste mitwirkten. (Irgendwo schaute auch Xavier Bettel obligat ernst um sich, als habe er seinen Schal verlegt.) Beteiligt waren mehr als 500 Statist*innen, die anlässlich eines Konzerts um Punkt elf Uhr überfallen wurden und je nach Anweisung umherrannten oder getroffen zu Boden gingen.

Mehr ist eigentlich nicht zu sagen, schließlich gab es mehr als genug zu sehen. Sowohl online wie auch offline wurde die Übung von den Zeitungen ohne viel medien- und bildkritische Selbstanalyse zur Schlagzeile hochgehievt: „Dem Ernstfall sehr nahe“, „Schüsse, Schreie und laufende Menschen“, „VIDEOEN an NEI FOTOEN“, et cetera. Der Service information et presse, kurz Sip, hatte den Medienvertretern, denen nur beschränkter Zugang zur Übung gewährt wurde, mehr als hundert Fotos zur Verfügung gestellt. Sie waren online integral einsehbar, teils exzessiv effektvoll in Storyboards montiert.

Es ist ein Fotoalbum des Schreckens: Teppiche aus gekrümmten Menschenkörpern, Kunstblutlachen inklusive makelloser „CSI“-Spritzer, leere Patronenhülsen, vermummte Männer, die Maschinengewehre im Anschlag, später dann eine Spezialeinheit der Polizei in voller Montur. Solche Bilder kennt man sonst nur aus Paris, Brüssel und Berlin. Gerade deswegen verstört die Sip-Bilder-Folge so: Auf denselben Handy- und Laptopbildschirmen hat man bereits ähnliche Fotos gesehen, als nachrichtliche Information über ein „wirkliches“ Attentat.

Der Ort, an dem die Bilder ihre Wirkung entfalten, ist indes der gleiche geblieben. Demjenigen, der wie hypnotisiert auf den inszenierten, fotografierten und distribuierten Schrecken starrt, bleibt der Trost, dass das ja nur eine Simulation sei, auch wenn sie von den einheimischen Medien extrem aufgebauscht wurde. Dennoch kommen einem schnell die kulturkritischen Fragen in den Sinn: Wirklich? Ist das denn nötig? Wäre weniger Gewalt nicht wünschenswert? The answer, my friend, liefert Quentin Tarantino. Als eine Filmkritikerin den Regisseur auf seine exzessiven Gewaltdarstellungen anspricht, erwidert dieser: „Because it’s so much fun, Jen, get it!“

Ja, ich gette es. Es bereitet Schauder und Spaß, durch die Bilderfolgen zu scrollen. Auf dem sonderbarsten der vielen sonderbaren Sip-Fotos wird dieser Mix aus Irritation und Faszination besonders deutlich. Dort lehnt ein Typ mit Fellmütze (!) und Chichi-Schal (!) in sich zusammengesunken an einer Wand. Gesicht und Brust dieses sibirischen Dandy-Trappers sind voller Blut. So wie er darniederliegt, wirkt er, als käme er schnurstracks aus dem bekanntesten Gemälde von Ilja Repin, Iwan der Schreckliche und sein von ihm erschlagener Sohn am 16. November 1581. Die linke Schulter ist ähnlich weggereckt, die linke Hand hängt in beiden Fällen leicht angewinkelt zu Boden. Beide sind blutverschmiert, sogar Bartwuchs und -farbe sind nahezu identisch! Auch die Perspektiven ähneln sich stark. Das Leichendouble wird zum Zeichenzombie wird zum Gemäldedouble. Der Zweifel an der eigenen Realitätskompetenz wächst.

Dabei zeigt das Repin-Gemälde nicht nur einen Gewaltakt, es wurde selbst wiederholt „Opfer“ von Tätlichkeiten. Wegen angeblich anti-russischer Motive ist es wiederholt Gegenstand von Polemiken gewesen. 2018 versuchte ein vodkaversoffener Museumsgänger, das Kunstwerk mit einem Metallpfosten zu erschlagen. Er war nicht der erste Wüterich, bereits 1913 hatte ein Bilderstürmer versucht, das Gemälde mit einem Messer zu erstechen.

Die Gewalt nimmt kein Ende, weder inner- noch außerhalb der Bilder, egal ob sie eingeübt oder gemalt, beschrieben oder lediglich betrachtet wird. Sie findet statt, immer wieder, als totales Ereignis in unserem „theatralischen Zeitalter, einem neuen Barock“ (Gernot
Böhme). Dabei schert sie sich wenig um Rahmungen und Übungsmodi, in die wir sie stecken. Gewiss, erwähntes Gemälde besitzt – so wie Tarantinos Filme – den Vorteil, die Gewaltfrage als eine ästhetische verfügbar, womöglich sogar genießbar machen zu können. Für das behördliche Rockhal-Foto gilt dieser Bonus des Künstlerischen aber nicht. Was soll man nur mit diesem Pseudo-Realo-Foto anfangen? Es ist weder Kunst noch Information, ein Zwitterding wie diese Dreiviertelhosen, die weder lang noch kurz sind. Ihm kann kein klarer Repräsentationsstatus zugewiesen werden. Die Fotos dokumentieren eine Simula­tion, designen zugleich ein Attentat.

Im Gegensatz zum Gemälde von Repin fehlt dem Foto die zweite Person, diejenige, der der blanke Schrecken in den Augen steht. Vielleicht sind wir ja in diesem Fall deren Stellvertreter. Vielleicht sind wir, die munteren Scroller und Starrer, die entsetzlich Gaffenden. Wir mögen außerhalb des Szenarios stehen, dessen brutalistischen Effekten sind wir dennoch ausgesetzt. Bei dieser grenzenlosen Erfahrung fehlt eigentlich nur die blutrote Farbe, wie sie Iwan ins Gesicht geschmiert wurde, das Kunstblut, das nach den mehr als hundert Fotos an unseren laptopbeschienenen Gesichtern zu kleben hätte.

Samuel Hamen
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