Die Regierung beansprucht nicht die Gewaltentrennung, im Parlament tut es bloß die Minderheit, die Justiz tut es umso lieber

Gewaltentrennung

d'Lëtzebuerger Land du 08.11.2019

Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Jean-Claude Wiwinius, und Oberstaatsanwältin ­Martine Solovieff hatten im August einen Brief an Kammerpräsident Fernand Etgen (DP) geschickt, um gegen parlamentarische Anfragen von CSV-Abgeordneten zum Umgang der Justiz mit ihren Datenbanken zu protestieren. Das sei „inadmissible au regard de la séparation des pouvoirs, principe qu’il nous tient tous à cœur de préserver“.

Die Gewaltentrennung ist ein politisches Panikwort. Deshalb gingen gleich sämtliche Warnleuchten bei Regierung, Parlament, Justiz und Presse an. Justizministerin Sam Tamson (Grüne) fand das zwar in einem Rundfunkinterview am 30. Oktober eine „unglückliche Reaktion der Staatsanwältin“, aber zumindest in einem Punkt haben der Richter und die Staatsanwältin recht: Die Gewaltentrennung zur gegenseitigen Zügelung von Regierung, Parlament und Justiz liegt in einer abstrakten und idealisierten Form jedem am Herzen, niemand wagt es, sich dagegen auszusprechen. In Lehrbüchern wird sie oft mit dem perfekten Konstrukt eines gleichschenkeligen Dreiecks illustriert, das dem Auge der Vorsehung ähnelt.

In Wirklichkeit wird das Dreieck, je nach Epoche, bald spitz-, bald stumpfwinkelig. In gesellschaftlich fortschrittlichen Zeiten wird die Gewaltentrennung auf Druck der subalternen Klassen gefestigt, in reaktionären Zeiten von den herrschenden gelockert. In der Praxis beansprucht jede Staatsgewalt die Trennung von den jeweils anderen stets asymmetrisch: Die Regierung beruft sich nicht auf die Gewaltentrennung, im Parlament tut es bloß die Minderheit, die Justiz tut es umso lieber.

Als Väter der Gewaltentrennung gelten John Locke, der das Verhältnis der herrschenden Klassen nach der Glorious Revolution in England beschrieben hatte, und Montesquieu, der vorgeschlagen hatte, wie der absolutistische König seine Macht mit Adeligen wie ihm teilen sollte. Im 19. Jahrhundert projizierte das Bürgertum seinen Wunsch, zur herrschenden Klasse aufzusteigen, in die Philosophen der Aufklärung und erklärte die Gewaltentrennung zu einem Grundprinzip der Demokratie.

Hierzulande wurde die Gewaltentrennung in der Revolution von 1848 institutionalisiert: Der Monarch in Den Haag mit seinen General-Administratoren in Luxemburg behielt die Regierungsgewalt; die nach dem Zensuswahlrecht ins Parlament gewählten Bürger erhielten die legislative Gewalt; die rechtsprechende Gewalt wurde Justizbeamten übertragen, die dem Staatsapparat näher als der Gesellschaft standen. Das Gewaltentrennung genannte Kräfteverhältnis verschob sich je nach politischer Konjunktur. Der König-Großherzog hatte 1848 als Gegengewicht zum bürgerlichen Parlament eine Adelskammer verlangt, nach seinem Staatsstreich 1856 wurde daraus der Staatsrat, den er mit hohen Beamten seiner Verwaltung beschickte. Ebenfalls als Gegengewicht zum Parlament sollten die 1924 gegründeten Berufskammern in einem ständischen „Wirtschaftsparlament“ versammelt werden, daraus wurde dann doch nichts.

Spätestens mit der Entmachtung der Monarchin und der Einführung des allgemeinen Wahlrechts vor hundert Jahren begannen Exekutive und Legislative, von Angehörigen derselben gesellschaftlichen Klasse gestellt zu werden, dem mittleren Bürgertum von Beamten und Selbstständigen. Die Gewaltentrennung erübrigte sich. Nun hielt die Regierung es mit einer Mehrheit der von ihr dominierten Abgeordneten, meist die konservative Partei der katholischen Bürger und Bauern mit der liberalen Partei der Selbstständigen oder der sozialdemokratischen Partei der Arbeiter, gegen die jeweils minoritäre Partei in der Opposition. Doch niemand ignoriert die Gewaltentrennung so souverän wie der Großherzog: Er ernennt die Gerichte, die in seinem Namen Recht sprechen und vollstrecken, er verkündet die Gesetze, er ernennt die Regierung, und jedes Mal, wenn in der Verfassung „grand-duc“ steht, ist die Regierung als seine Bauchrednerin gemeint. Artikel 32 der Verfassung sieht vor, dass im Fall einer Krise als erstes die Gewaltentrennung aufgehoben wird.

Dass die Justiz empfindlich wie keine andere Staatsgewalt reagiert, wenn sie die Gewaltentrennung verletzt fühlt, ist nachzuvollziehen. Denn anders als die vom Volk gewählte Legislative und die aus den Legislativwahlen hervorgehende Exekutive entbehrt die Judikative jeder demokratischen Legitimation: Die Richter sind nicht gewählt, sondern müssen ihre Legitimation aus verstaubten Ritualen ziehen.

Auf dem Papier untersteht nur die Staatsanwaltschaft direkt der Justizministerin. Aber in seinem Gutachten zur Verfassungsrevision klagt das Verwaltungsgericht, dass „non seulement la nomination initiale des magistrats relève-t-elle de la seule compétence du gouvernement, mais même leurs promotions tout au long de leur carrière. [... C]’est un euphémisme que d’affirmer que le système en place ne correspond guère aux standards d’une démocratie“. Und angesichts des geplanten Conseil national de la justice warnt das Bezirksgericht Luxemburg, dass „la création d’un tel organe ne sonne le glas de l’indépendance de la justice et menace le principe de la séparation des pouvoirs comme elle l’a fait ailleurs“.

Zur Demokratisierung der Rechtsprechung hatte das französische Regime Geschworenengerichte mit aus dem Volk gewählten Laienrichtern eingeführt. Mit der politischen Restauration wurden sie 1814 wieder abgeschafft, aber die Erinnerung an sie blieb wach. In den Revolutionen von 1830 und 1848 wurde in zahlreichen Petitionen ihre Wiedereinführung gefordert, weil die Demokratie verlange, dass der Wahl der Abgeordneten aus dem Volk die Wahl der Richter aus dem Volk entspräche. Das in der Verfassung von 1848 angekündigte Gesetz zur Wiedereinführung von Geschworenengerichten wurde Anfang 1849 eingebracht, aber als sich die Reaktion durchgesetzt hatte, ein Jahrzehnt lang verschleppt und schließlich vergessen.

Im November 1931 brachte der sozialistische Abgeordnete und Rechtsanwalt René Blum eine Proposition de loi pour la réintroduction du jury en matière criminelle ein. Zur Begründung zitierte er den Richter und Abgeordneten Thérèse-Vendelin Jurion: „Les magistrats investis à vie, dans l’intérêt général, du pouvoir de punir, ne sont-ils pas amenés à voir dans les accusés des ennemis de la société […]?“ Mit den Worten von Rechtsprofessor Thomas Dragu meinte der Abgeordnete: „Les magistrats forment une classe de fonctionnaires de l’Etat, et ne représenteront jamais la masse sociale, la société dans son ensemble.“ Auch dieser Gesetzesvorschlag ging im Laufe der Jahre auf dem Instanzenweg verloren.

Wie so oft im hiesigen Verfassungsrecht unterscheidet sich die Praxis der Gewaltentrennung entschieden von der Theorie. Dem Diplomaten und späteren Kammerherrn des Großherzogs ­Pierre Majerus, dessen 1948 erschienenes Buch L’État luxembourgeois für mehrere Generationen von Schülern und Studenten zur heiligen Schrift der Staatskunde wurde, gelingt es nicht nur, die Gewaltentrennung als hehres Prinzip zu idealisieren, sondern gleichzeitig auch die Tatsache, dass es sie nicht richtig gibt: „L’idée de la séparation des pouvoirs n’est pas formellement inscrite dans notre Constitution, mais elle résulte du plan et du contexte de notre charte fondamentale. [...] Loin d’être cependant une séparation rigide et tranchante, telle qu’elle existe par exemple aux Etats-Unis, la séparation des pouvoirs prévue par notre Constitution est une séparation souple et atténuée“ (S. 96).

Der sogenannte Pragmatismus, mit dem die Regierenden sich den Rechtstaat so zurechtlegen, dass er kein Linksstaat wird, setzt voraus, dass die Verfassung von 1848 die Gewaltentrennung nicht erwähnt, dass das bis heute so geblieben ist und laut Entwurf zur geplanten Verfassungsrevision auch so bleiben soll. Dass Mehrheit und Opposition sich hüten, die Gewaltentrennung in die Verfassung zu schreiben, hängt mit der Vokabel zusammen: In Frankreich, wo das Volk die Demokratie wiederholt mit Waffengewalt erkämpfte, geht eindeutig die Rede von „séparation des pouvoirs“, in Deutschland mit seiner autoritäreren Tradition wird meist schwammiger „Gewaltenteilung“ gesagt. Aber der Verfassungstext ist nun einmal auf Französisch. Würde die Gewaltentrennung als solche in einem Verfassungsartikel aufgeführt, geriet gleich ein Dutzend anderer Artikel in Widerspruch zu ihm.

Der ehemalige CSV-Abgeordnete Paul-Henri Meyers hatte dem parlamentarischen Ausschuss der Institutionen und Verfassungsrevision vorgeschlagen, die Gewaltentrennung in der neuen Verfassung zu erwähnen, doch er fand keine Mehrheit. Ende 2015 beschloss der Ausschuss: „Le principe de la séparation des pouvoirs, se basant sur la conception de Montesquieu définie dans ‘L’esprit des lois’, constitue un principe fondamental des démocraties représentatives. Il convient de souligner qu’une séparation trop stricte des pouvoirs peut conduire à une paralysie des institutions [...]. Ceci dit, la commission est à se demander en quoi consisterait la plus-value de l’ancrage formel de ce principe dans la nouvelle Constitution et s’il ne créerait en fin de compte pas davantage de problèmes qu’il n’en résoudrait.“

So musste sich das Verwaltungsgericht einsam wundern: „Il est vrai que tout le monde, y compris le Constituant lui-même, s’accorde que le régime constitutionnel est celui de la séparation des pouvoirs et que la Constitution, dans son intégralité, structure et contenu confondus, en reflète l’esprit; il n’en est que plus étonnant que ce principe ne soit pas inscrit formellement dans le nouveau texte de la Constitution. [...] L’objection possible qu’il s’agit en réalité d’un régime, non de séparation, mais de collaboration des pouvoirs, ne devrait pas porter à conséquence, la longue tradition politique du pays ayant mis en évidence qu’il s’agit d’un régime où l’exercice respectif de leurs pouvoirs par les trois pouvoirs constitutionnels n’est pas cloisonné.“

Romain Hilgert
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