Ist unsere Demokratie krank? Das ist eine Frage, die derzeit viele Zeitgenossen umtreibt. Ihre Diagnose: Das Misstrauen zwischen Regierten und Regierenden wächst. Vermeintliche Protestergebnisse bei Wahlen häufen sich, die Volksparteien erodieren. Und mit der zunehmenden politischen Fragmentierung nimmt nicht nur die Möglichkeit von stabilen Mehrheiten ab, es schwindet auch der Kern, der demokratische Staaten im Innersten zusammenhält: die edle Suche nach dem Kompromiss. Wer die Demokratie insgeheim für krank hält, wird sich wohl im Anschluss fragen: Wie ist sie zu heilen? Darauf versuchen Politiker, Politologen, aber auch Demagogen auf internationalem Parkett vor dem Hintergrund des Brexit-Dilemmas und einer EU-Müdigkeit Antworten zu geben. Aber auch im nationalen Kontext in Luxemburg gibt es Politiker, die an neuen Modellen arbeiten. Abgesehen von der ins Stocken geratenen Verfassungsdiskussion sind es dabei zwei Ideen, die derzeit im Großherzogtum kursieren, die den demokratischen Prozess verbessern wollen. Die eine ist alt, die andere ist sehr alt. Die eine zielt auf mehr Professionalisierung in der Politik, die andere auf weniger Professionalisierung. Die eine denkt den Prozess der repräsentativen Demokratie weiter, die andere setzt ihm ein Korrektiv entgegen.
Doppelmandat Als die gesamte Opposition im Juli das Parlament aus Protest bei der Datenbankaffäre verließ, stand der politische Betrieb still. Denn in der Chamber waren nicht mehr genügend Abgeordnete anwesend, um die öffentliche Sitzung weiterzuführen. Nicht alle Abgeordneten von DP, LSAP und déi Gréng waren im Parlament. Den Mehrheitsparteien fehlte die Mehrheit. Wer sich die Bilder des Parlaments-Shutdown noch einmal auf Chamber.tv anschaut, wird dabei Zeuge eines bemerkenswerten Schauspiels: Just in dem Moment, als Claude Wiseler sich als letzter CSV-Abgeordneter von seinem Platz erhebt, scheint jemand geradezu intuitiv zu rufen. „Géi een, d’Lydie sichen.“
Der Lydie-Witz gilt dabei als Running Gag in der politischen Blase, der sich bereits seit Jahren beziehungsweise seit Legislaturperioden erzählt wird. Denn tatsächlich ist die mächtige Députée-maire eher selten im Parlament zu sehen. Im Gegenteil: Sowohl in den Ausschüssen als auch bei öffentlichen Sitzungen glänzt sie oftmals durch Abwesenheit. Manche Abgeordnete sagen, dass die DP-Politikerin ihren Platz im Parlament in unmittelbarer Nähe zur Tür bewusst gewählt hat, damit ihr Kommen und Gehen während einer Sitzung weniger auffällt.
So kritisch die Cameo-Auftritte der Abgeordneten Polfer im Parlament zu betrachten sind, so trivial ist es, die Kritik lediglich an ihrer Person festzumachen. Tatsächlich liegt das Problem viel tiefer – im System der Doppelmandate. Denn wie soll es eigentlich möglich sein, eine Hauptstadt von knapp 120 000 Einwohnern mitsamt Verwaltungsapparat von rund 2 300 Angestellten zu managen und gleichzeitig noch genügend Kraft und Zeit aufzubringen, um dem nationalen Mandat als Abgeordneter gerecht zu werden? „Überhaupt nicht!“, sagt Alex Donnersbach, Präsident der jungen Christsozialen (CSJ). „Der Député-maire ist weder député noch maire“, so seine klare Aussage in einem Essay am vergangenen Wochenende im Luxemburger Wort. „Beide Mandate kann er/sie nur halbherzig wahrnehmen, doch beides verlangt volle Aufmerksamkeit.“
Der junge CSV-Politiker greift dabei eine Diskussion auf, die in etwa so alt ist wie die Frage nach einer Tram in Luxemburg. Seit Mitte der 90-er Jahre haben alle Parteien, von CSV bis KPL, die Forderung nach einer Trennung von Amt und Mandat, von nationaler Legislative und kommunaler Exekutive in ihren Programmen stehen. Die Machtkonzentration auf wenige Personen schade dem demokratischen Prozess und behindere die parlamentarische Arbeit, so der konsensfähige Tenor. Die Schienen der Tram sind mittlerweile gelegt, ein Ende der Ämterkumulation gilt weiterhin als Wunschdenken. Es ist ein Thema, bei dem sich scheinbar alle einig sind, es schon lange waren und dennoch bis heute nichts passiert ist.
Und das wird wohl auch so bleiben. Denn bis auf eine grobe Absichtserklärung, das Problem zu besprechen, lässt sich dem Koalitionsabkommen des Mitte-Links-Bündnis nur mit sehr viele Mühe die Intention entnehmen, Doppelmandate abzuschaffen. „Dabei haben wir gerade jetzt den geeigneten Zeitpunkt“, sagt Donnersbach. Denn 2023 wird ein Superwahljahr: Das heißt, dass sowohl National- als auch Kommunalwahlen stattfinden. Für Donnersbach ist es die optimale Gelegenheit, Klarheit für die Bürger zu schaffen und die Ämterhäufung gesetzlich aufzuheben.
Donnersbach schwebt dabei vor, die Exekutive der Gemeinden zu professionalisieren. Sprich: Bürgermeister und Schöffen würden ihre Ämter vollberuflich ausüben, mitsamt höheren Diäten und entsprechendem Congé politique. Angesichts steigender Einwohnerzahlen sowie kommunaler Herausforderungen sei nur so ein Gemeindemanagement auf der Höhe der Zeit möglich. Im Gegenzug sollte ihnen der Zugang zum Parlament verwehrt werden, genauso wie es auch Mitgliedern der Regierung oder des Staatsrats nicht möglich ist, in der Chamber zu sitzen. So soll eine
Machtkonzentration ebenso verhindert werden wie Interessenkonflikte, in denen die oftmals als Lokalfürsten titulierten Député-maire zwischen nationalen und lokalen Interessen abwägen müssen. Damit die Gemeindeexekutive nicht vollends vom legislativen Prozess abgeschnitten ist, schlägt der CSJ-Präsident die Schaffung einer neuen Kammer vor: Kein Senat mit Initiativrecht wie in anderen westlichen Republiken, sondern eine Art Mischwesen zwischen Staatsrat und Chambre professionnelle. Die neue Kammer könnte ähnlich wie der Staatsrat Gesetzestexte mit oppositions formelles belegen.
Auch diese Idee ist nicht neu und wurde bereits in ähnlicher Form vor Jahren vom früheren CSV-Innenminister Michel Wolter formuliert. Dabei scheiterte das damalige Vorhaben wie so oft am Widerstand der Deputé-maire selbst. Denn die Aufhebung der Doppelmandate kommt für viele Abgeordnete einer Beschneidung ihrer Macht gleich. Auch derzeit machen die 23 Députés-maires fast die Hälfte der Abgeordneten im Parlament aus – dass sie ein Gesetz verabschieden, das ihren partikularen Interessen schadet, ist nur schwer vorstellbar.
Donnersbachs Vorschlag ist in politischen Kreisen mit Wohlwollen aufgenommen worden – es gab Beifall von Teilen der eigenen Partei, der Grünen, der LSAP sowie der Piraten. Und dabei wird es wohl bleiben, insgeheim macht Donnersbach sich keine Illusionen darüber, dass es bei den aktuellen Kräfteverhältnissen im Parlament tatsächlich zu einer Abschaffung der Doppelmandate kommen wird.
Lotterie Es ist jedoch nicht die einzige Idee, die aktuell kursiert, um den demokratischen Prozess zu verbessern. Denn um der „Demokratiemüdigkeit“ entgegenzuwirken, müsse man deutlich tiefer ansetzen, denken sich jedenfalls die Piraten. Sie haben vergangene Woche einen Gesetzesvorschlag eingereicht, um sogenannte Bürgerräte einzuführen. Die Idee der deliberativen Demokratie ist derzeit en vogue bei politischen Denkern in ganz Europa, ein erstes Experiment, an das sich die Piraten explizit anlehnen, ist gerade in Ostbelgien angelaufen.
Als politischer Vordenker der Bürgerräte gilt der belgische Historiker David van Reybrouk. In seinem Buch Against Elections: The Case for Democracy stellt er das klassische Modell mit Wahlen und Referenden infrage. Er plädiert für die Einbeziehung des Volks über eine zusätzliche, durch den Zufall bestimmte Kammer. Das Auslosen der Volksvertreter sieht er als gerechtes, Repräsentativität garantierendes Heilmittel. Die Idee ist dabei denkbar alt: Bereits in der attischen Demokratie in der Antike war die „aleatorische Demokratie“ für Staatsämter die Regel. Ihr damaliger Verfechter: Aristoteles. Auch die Republik Florenz sowie andere italienische Stadtstaaten haben über Jahrhunderte ihre politischen Entscheidungen mit einem Losverfahren getroffen. Erst mit der Französischen Revolution verschwand die Idee. Van Reybroucks zentraler Gedanke: Wahlen und Volksabstimmungen sind „primitiv und alt“ und führen frei nach Collin Crouch zu postdemokratischen Gesellschaften. Wenn einfache Bürger jedoch die Befugnis, Zeit und Information bekommen, schwierige Fragen anzugehen, wachsen sie über Gegensätzlichkeiten hinaus und liefern sinnvolle Antworten.
Wenn es nach dem Abgeordneten der Piraten Sven Clement geht, sollen solche Bürgerräte per Losverfahren auch in Luxemburg bald Realität sein. Sie sollen helfen, eines der größten demokratischen Probleme im Parlament zu lösen: die Homogenität der politischen Klasse. Knapp die Hälfte der Kandidaten, die an den vergangenen Wahlen teilgenommen haben, waren Angehörige des öffentlichen Dienstes. Vollkommen unterrepräsentiert im Parlament sind hingegen Angestellte und Arbeiter, aber auch Studenten und Arbeitslose sowie Frauen und auch Nichtluxemburger. Mit Wahlen allein wird man die kranke repräsentative Demokratie deshalb nicht heilen.
Per Zufall sollen Bürgerräte zusammengewürfelt werden, die Lösungen zu wichtigen gesellschaftlichen Themen finden sollen. Das Prinzip ist ähnlich wie bei Geschworenengerichten in den USA, bei denen auch Laien an der Judikative beteiligt sind. Die Räte würden die nötigen Mittel, Zeit und Informationen erhalten, um politische Vorschläge zu machen. Clement spricht von einem Prozent des Haushalts, das den Bürgerräten zur Verfügung stehen soll. Das klingt nach wenig, ist aber mehr als das gesamte Budget des Kulturministeriums. Allerdings liege das letzte Wort immer noch beim Parlament: Die Bürgerräte hätten lediglich die Möglichkeit, Initiativen einzureichen. Das hätte den Vorteil, die Einwohner des Landes in eine kontinuierliche, über den Wahleinsatz hinausgehende, politische Beteiligung einzubinden und sie mitverantwortlich für gesellschaftliche Weichenstellungen zu machen.
Bisher haben die Piraten wenig Resonanz auf ihren Gesetzesvorschlag erhalten. CSV-Präsident Frank Engel hat sich im Sommer grundsätzlich begeistert von der Idee in Ostbelgien gezeigt. Verfassungspapst Alex Bodry (LSAP) hält Bürgerräte per Lostrommel jedoch für wenig sinnvoll und bezweifelt die Zukunftsfähigkeit dieses Modells. Auch andere Kritiker bezeichnen Bürgerräte als „Spielerei“ oder „Showeinlage“. Clement hält dagegen und unterstellt der parlamentarischen Demokratie in Luxemburg in seiner jetzigen Form sehr viel Show: „Wir sind doch vor allem ein Verein von Kopfnickern“, so Clement über den Zustand des Parlaments. Es wäre sinnvoll, das zu ändern.