Luft zum Atmen Als mehrere OPEC-Staaten während des Jom-Kippur-Krieges im Herbst 1973 beschlossen, ihre Öllieferungen an den „Westen“ zu drosseln, stieg der Weltmarktpreis stark an. Als Reaktion darauf führten die Niederlande autofreie Sonntage ein. Auch Belgien, Deutschland und die Schweiz griffen auf das „Sonntagsfahrverbot“ zurück. Im liberalen Luxemburg appellierte die Regierung derweil „an die Vernunft des Verbrauchers“. Die Tankstellen wurden am Wochenende geschlossen, vor allem um zu verhindern, „daß durch den Grenzverkehr die luxemburgischen Reserven zu stark angezapft werden“, berichtete das Wort. Diskussionen über ein Sonntagsfahrverbot wurden zwar auch in Luxemburg geführt, doch der Automobil-Club wehrte sich dagegen, weil die Benzineinsparungen dadurch „absolut fragwürdig sind“. Andere befürchteten verheerende Auswirkungen auf den Wochenend-Tourismus. Schließlich erließ auch Luxemburg vom 25. November bis 16. Dezember 1973 vier Sonntagsfahrverbote. Die autofreien Tage hatten auch gute Seiten: „Das Sonntagsfahrverbot brachte den Menschen einiger westeuropäischer Staaten endlich einmal ein paar Tage der Ruhe, der Stille, der Unfallfreiheit und das unerwartete Privileg wieder einmal reine Luft zu atmen“ (d’Land, 28.12.1973). In den Niederlanden löste der autofreie Sonntag sogar einen „Sturmlauf auf Fahrräder“ aus.
Das Ölembargo hatte aber nicht nur Auswirkungen auf den Verkehr, sondern auch auf die Wirtschaft. Luxemburg litt unter der Stahlkrise, zwischen 1974 und 1976 stieg die Inflation jährlich um 10 Prozent. Die neue Regierung aus DP und LSAP reagierte darauf mit einer Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen: Sie erhöhte den Mindestlohn, justierte die Renten, führte eine Teuerungszulage und eine Vergütung der Kurzarbeit ein, für Jugendliche und Rentner machte sie den öffentlichen Transport gratis. Nicht zuletzt erweiterte sie die automatische Lohnindexierung, die bis dahin nur für Beschäftigte in Kollektivverträgen galt, auf alle Arbeitnehmer; betroffen waren insbesondere Haushalts- und Landwirtschaftspersonal, die tarifvertragliche Abdeckung wurde damals auf 80 Prozent geschätzt, heute liegt sie laut Statec bei 60 Prozent. Zwischen 1970 und 1980 stiegen die Löhne in Luxemburg um 92 Prozent, bei einer Inflationsrate von 90 Prozent.
Die Diskussionen um den 1921 nur für verschiedene Berufsgruppen eingeführten Index sind so alt wie er selbst. In dem Gesetz, mit dem die Regierung 1977 das Comité de coordination tripartite institutionalisierte, gab sie sich auch das Recht, die Anzahl und die Auswirkungen der Indextranchen zeitweise zu begrenzen. 1982 kam es durch die iranische Revo-
lution erneut zu einer Ölknappheit, die zu einer globalen Rezession führte. Die Stahlindustrie war noch immer in der Krise, die Inflationsraten stiegen erneut auf fast zehn Prozent; die Prognosen lagen aber wesentlich höher, deshalb befürchtete man, dass 1983 und 1984 bis zu sechs Indextranchen entfallen könnten. Gleichzeitig ging das Bruttoinlandsprodukt zurück. Die Tripartite kam nicht zu einer Übereinkunft und trotz eines Generalwarnstreiks mit zehntausenden Teilnehmern verabschiedete die DP-CSV-Mehrheit im Parlament am 5. April 1982 ein Gesetz, das die Lohnindexierung 1983 auf drei Tranchen begrenzte, damit die Wirtschaft kompetitiv bliebe. Mit einem weiteren Gesetz wurde die Indexierung für 1984 auf eine Tranche limitiert.
Ungleichheiten In den 1980-er Jahren blieb die Lohnentwicklung zehn Prozent unter der der Inflation, in den folgenden drei Jahrzehnten wurde die Preissteigerung durch den Index lediglich ausgeglichen, substantielle Lohnerhöhungen waren nicht zu verzeichnen. Die Einkommens-
unterschiede und die sozialen Ungleichheiten sind in Luxemburg heute wesentlich höher als in den Nachbarländern und in Skandinavien, und das obwohl das Großherzogtum weltweit über das höchste BIP (pro Kopf), eine überaus geringe Staatsverschuldung und ein AAA-Rating verfügt. Auch das Risiko, in die Armut abzurutschen, liegt über EU-Durchschnitt und über dem der Eurozone.
Seit dem Beginn von Putins Angriff gegen die Ukraine steht der Index wieder im Mittelpunkt des innenpolitischen Geschehens. Die Situation erinnert an die von vor 40 und vor 50 Jahren. Inzwischen ist Europa nicht nur abhängig von Erdöl, sondern auch von Gas. Die Weltmarktpreise für fossile Energien waren schon im Sommer gestiegen, weil die Spekulanten befürchtet hatten, der starke wirtschaftliche Aufschwung nach der Corona-Pandemie könne zu Lieferengpässen führen (auch strenge Ölförderquoten und geopolitische Gründe spielten eine Rolle). Vor drei Wochen ist diese Angst an den Börsen noch weiter gestiegen. Deshalb hatte die Regierung Ende Februar einen Energiedësch einberufen und mit dem Energiescheck für einkommensschwache Haushalte, der Strompreisstabilisierung und der Gasnetzsubventionierung drei Sofortmaßnahmen beschlossen. Für die letzte der drei Maßnahmen braucht es ein Gesetz, das eigentlich so schnell wie die Covid-Gesetze durch die Kammer gehen sollte; es lässt noch immer auf sich warten.
Um die Haushalte kurzfristig zu entlasten, forderten Parteien, Gewerkschaften und Konsumentenschutz in den vergangenen Wochen schnelle Maßnahmen. Am Vormittag des 10. März kündigte Premierminister Xavier Bettel (DP) eine nationale Tripartite an, am Nachmittag trug Vizepremierministerin Paulette Lenert (LSAP) eine Regierungserklärung in der Kammer vor, in der sie für das Luxemburger Sozialmodell warb. Die CSV wünschte sich im Anschluss eine Anpassung der Steuertabelle an die Inflation, eine Spritpreisbremse, die Aussetzung der TVA auf Energieprodukte, die Erhöhung der Kilometerpauschale und eine Ausweitung der Teuerungszulage; Forderungen, die auch die Gewerkschaften schon geäußert hatten. Die ADR forderte zusätzlich die Abschaffung der CO2-Steuer. Déi Lénk plädierte für eine Verstaatlichung von Energie und Wasser und für höhere Investitionen in die Energietransition. Zur Tripartite bekannten sich auf Nachfrage des LSAP-Abgeordneten Dan Kersch alle Parteien, ihre Position zum Index fragte er nicht ab.
No-Go Die meisten der von der Opposition geäußerten Forderungen kommen für die Regierung aber wohl nicht in Frage, entweder weil sie nicht mit ihren Klimazielen vereinbar sind, oder weil sie nur schwer umsetzbar sind. Welche Positionen die Regierung in der Tripartite genau vorbringen wird, ist noch unklar. Autofreie Sonntage werden wohl nicht dazu gehören. Genau wie die Gewerkschaften und die UEL will sie sich vor der großen Verhandlungsrunde nicht allzu sehr in die Karten schauen lassen. OGBL, LCGB und CGFP hätten sich vergangene Woche darauf geeinigt, dass eine Modulierung des Index ein „No-Go“ sei, sagt OGBL-Präsidentin Nora Back dem Land (LCGB-Präsident Patrick Dury wollte sich auf Nachfrage nicht äußern). Von der aktuellen „Jahrhundertkrise“ seien längst nicht mehr nur Arme betroffen, die Not reiche bis in die Mittelschicht. Deshalb sei die „Almosenpolitik“, wie die Regierung sie zuletzt mit kleinen Zulagen, Prämien und kostenlosen Angeboten betrieb, nicht mehr angebracht. Die CGFP mahnte in einer Mitteilung, eine Infragestellung des Indexsystems würde einen Verstoß gegen das bestehende Gehälterabkommen im öffentlichen Dienst bedeuten.
Während Handelskammer und Handelskonföderation schon bei RTL vor der hohen wirtschaftlichen Belastung durch zwei oder drei Indextranchen warnten, hielt der Arbeitgeberverband UEL sich bislang noch zurück. Hilfen für Betriebe hatte Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP) nach dem Energiedësch zwar angekündigt, doch beschlossen sind sie noch nicht, weil die 27 EU-Staaten sich erst noch darüber einigen müssen, in welchem Maße es für sie hinnehmbar ist, dass Regierungen in den Energiemarkt eingreifen. Fakt ist aber, dass manche Betriebe stark unter den hohen Energiepreisen leiden (vor allem wenn sie keine längerfristigen Verträge haben und Energie an der Börse einkaufen), während andere größtenteils davon verschont bleiben. Deshalb sprechen sich sowohl UEL als auch OGBL für eine sektorielle oder individuelle Unterstützung auf Unternehmensebene aus. Darüber, wie diese Hilfen genau aussehen sollen, gibt es jedoch keinen Konsens. Während UEL-Präsident Jean-Paul Olinger bereits „schwarze Wolken über unserer Wirtschaft“ sieht und gegenüber dem Land darauf hinweist, dass der Index manche Sektoren stärker belaste als die Energiepreise, spricht Nora Back sich kategorisch dagegen aus, die Betriebe über eine Modulierung des Index zu entlasten. Stattdessen fordert sie gezielte staatliche Hilfen oder Steuerentlastungen nur für die Betriebe, die von der Krise betroffen sind: eine „Almosenpolitik für die Wirtschaft“, sagt Back.
Auch wenn es bei der Tripartite, die laut Land-Informationen am Dienstag stattfinden soll, nicht alleine um den Index gehen wird, so wird er doch ein zentrales Thema bei den Verhandlungen sein. Auf Regierungsebene scheint es eine Übereinkunft darüber zu geben, dass der Index in seiner jetzigen Form ungerecht sei, weil Haushalte mit höheren Einkommen mehr Geld erhalten als solche mit niedrigen, was der selektiven Sozialpolitik der Dreierkoalition widerspricht. Das Statec hat am Dienstag eine Studie veröffentlicht, derzufolge die Bedeutung der Gewerkschaften in der Arbeitswelt seit über zehn Jahren zurückgehe. Für den OGBL, der in einer Mitteilung bemängelt, die Statec-Analyse beruhe auf fehlerhaften Daten, sei das Teil eines „ideo-
logischen Machtkampfs“, der zurzeit um den Index geführt werde. In diese Kategorie fallen für Nora Back auch die Aussagen der Direktorin des öffentlichen Forschungsinstituts Liser, Aline Muller, die am Montag in einem Interview mit dem Tageblatt die automatische Lohnindexierung als „Teufelskreis“ bezeichnete und davor warnte, dass die Indexierung die absolute Ungleichheit verschlimmere und drei Indextranchen „sehr schlimme Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit der Luxemburger Firmen“ haben könnten.
Goldene Zeiten Das Festhalten der Gewerkschaften am Index hat auch eine hohe symbolische Bedeutung. Für sie ist er kein Teufelskreis, sondern ein Trumpf und vielleicht auch eine Féckmillchen, die nur durch eine Änderung der Spielregeln temporär aufgehoben werden kann. Der Index gilt als ihre größte Errungenschaft, auch weil er ihnen aufwändige und teure Sozialkämpfe erspart. Der Generalwarnstreik von 1982 – bislang der einzige in der Geschichte Luxemburgs – hatte zwar nur wenig bewirkt, denn die Gewerkschaften hatten das Kräftemessen mit der Regierung verloren, doch laut offizieller Lesart haben OGBL und LSAP am Ende doch gewonnen, weil die DP-CSV-Koalition 1984 abgewählt wurde, die Sozialisten sieben Sitze gewannen, wieder in die Regierung kamen und den Indexmechanismus wiederherstellten. Ob dieses Resultat tatsächlich eine direkte Folge des „Indexkrieges“ war, darf zumindest bezweifelt werden, denn 1984 wurde die Zahl der Abgeordneten von 59 auf 64 erhöht und die sozialdemokratische Splitterpartei SdP trat nicht mehr an (dafür aber erstmals die Grünen, die auf zwei Sitze kamen).
Die Idee einer progressiven oder „gedeckelten“ Lohnindexierung ist indes keine Erfindung des Patronats, der DP, der CSV oder der Grünen. Die Kommunisten hatten das schon vor 50 Jahren gefordert: „Fir wat kre’en de’ da mat dénen he’gen Akommes dat Zwanzegtfacht vun dém, wat de’ kleng Witfraen oder den Aarbechter mat dém niddrege Lo’n als Upassung un d’Deierung krit?“, fragte der KPL-Abgeordnete und langjährige Generalsekretär der kommunistischen Gewerkschaft FLA, Jos Grandgenet, in einer Kammerdebatte von 1975, und schlug für niedrige Einkommen einen Mindest- und für hohe einen Höchstsatz beim Index vor. Die LSAP war dem nicht abgeneigt, der OGBL-Gewerkschafter und Abgeordnete Jean Regenwetter gab aber zu bedenken, das Kernproblem beim Index sei nicht der Einheitssatz, es sei struktureller Natur: „Dé Moment, wo’ mir der Menong sin, datt d’Akommeshierarchie hei am Land gerecht ass, ass et och gerecht, datt mir eng prozentual Opbesserung oder e prozentualen Ausgleich hu vun der Kafkraaft vun der Geldentwertung“. Für den Fall, dass die Einkommenshierarchie nicht gerecht sei, weil die Schere zu weit auseinandergeht, hatte Regenwetter gleich eine Lösung parat: „A wann d’lndexupassunge momentan ze kleng sin, ass et eso‘, datt d’Mindestakommes hei am Land ze niddreg ass. An da musse mir kucken, datt mir d’Mindestakommes hei am Land änneren. Dat musse mir he‘gen, wa mir wëllen de Problém vun den lndexupassungen hei am Land définitiv régelen.“
In einer früheren Version dieses Artikels, der auch in der Druckausgabe der Zeitung erschienen war, fehlte im ersten Absatz die Angabe der vier Sonntagsfahrverbote in Luxemburg im Herbst 1973.