Russland. Ein Wintermärchen

Depardjow, grübelnd

d'Lëtzebuerger Land vom 18.01.2013

Datscha, Samowar, Nacht, tiefe. Gerardoslav Xavierowitsch Mursel Depardjow sitzt grübelnd im Schlafrock vor dem Briefbogen und kaut am Federkiel. Er taucht ihn in die Tinte, die schwarz ist wie die russische Nacht. Müde schüttelt er das mächtige Haupt und nimmt einen Schluck russischen Tees. Es will nicht so recht schmecken. Er läutet. Tritt ein Nastassja Nestawnja KyrilloWitch Katastrofowa, ausgestattet mit hohen Backenknochen und allerlei brauchbaren Zutaten. „Idiot“, sagt sie und zeigt auf ein Buch. Schon wieder. Schon wieder will sie ihm etwas vorlesen, schon wieder Schuld, Sühne, Idioten.

Hoffentlich kommt Brigitte bald. Er schlurft im Schlafrock und in den pelzgefütterten Hausherrenpantoffeln ziellos durch die Datscha, die Dielen knarren, die Balken, es tropft, es klopft, vielleicht im Kopf. Aber morgen flüstern die Birkenwälder. Dann stapft Gerardoslav Xavierowitsch Mursel Depardjow durch seine Liegenschaften, die überall herum liegen, und schaut nach, wie der russische Wein sich so macht. Die Liegenschaften erstrecken sich sicher bis zum Ural, uralt wird man als Zweibeiner beim Durchstapfen. Manchmal niest Gerardoslaw Xavierowitsch Mursel Depardjow, oder er steckt sich heimlich eine Gallierin an. Er schaut versonnen in den sonnenlosen Himmel, von dem es so viel gibt. Manchmal nickt er einem Muschik zu, der sich in der Ferne die Mütze vom Schädel reißt. Allez, allez, murmelt Depardjow sich an.

Zuhause trinkt Depardjow eine russische Milch, dann spielt er Russisches Roulette, sein Lieblingsspiel. Hoffentlich kommt ihm Natascha Nestawnja KyrilloWitch Katastrofowa nicht drauf. Morgen wird er aufbrechen, seinen kleinen Freund besuchen, der hinter einer riesigen goldenen Tür auf ihn wartet. Sie werden einander in die Augen schauen und sich dann innig umarmen. Dann sitzen sie sich gegenüber, und die Dolmetscher übersetzen die Freundlichkeiten, die sie einander sagen. Er muss sich noch was Schönes zu Russland ausdenken, das mit der Demokratie hat er jetzt schon so oft wiederholt. Tolstoi. Die sibirischen Tiger. Der Borschtsch, allein schon das Wort, Gerhardoslav Xavierowitsch Mursel Depardjow nimmt den Mund voll. Manchmal geht ihm der kleine Freund aber auf die Nerven. Er steckt ihn in Bärenfelle, oder in Rasputinklamotten, das findet der sehr lustig.

Gerardoslav Xavierowitsch Mursel Depardjow tritt ans Fenster. Er kann ganz weit sehen, bis in zu den Baikalseen, zu den diversen Meeren, bis Petropawlowsk und Machatschkala. Sogar bis an die Beresina.

Dort … am Horizont … hinter den Schiwago-Film-Eisblumen, die auf den Fenstern blühen … ist das nicht Brigitte mit ihren halbtoten Elefanten? Oder ist es wieder eine Fata Morgana, wie so oft schon? Mit Elefanten, wie war das bei Hannibal … dass er aber auch nie aufgepasst hat, damals, er sollte es googeln. Und vielleicht mal auf Facebook, seine fünf Freunde …. Facebook fragt ihn, wie er sich so fühlt.

Angeödet stößt er den Laptop von sich, starrt in die starre Weite. Dieses idiotische Väterchen Frost. Wie lang dauert die russische Ebene, wie lang dauert der längste Fluss, die längste Nacht? Wo bleiben sie denn … es kommen doch bestimmt noch ein paar. Hallyday vielleicht, Mireille Matthieu, Houellebecq, naja, auch nicht gerade der Partylöwe. Die Diaspora, es gab ja auch Wolgadeutsche, sie könnten ein Obelixdorf gründen, etwas Solides, Bodenständiges. Statt immer nach der Pfeife des Moskowiter Rumpelstilzchens den Kasatschok zu tanzen. Busse kämen mit Männern mit Fellmützen und Frauen mit Backenknochen, sie würden Autogramme geben und etwas Authentisches präsentieren. Schnecken züchten und servieren, zum Beispiel. Aber nein, vergiss es, mit Brigitte geht das nicht, da gibt es höchstens Flechten und Moose.

Gerardoslav Xavierowitsch Mursel Depardjow zündet sich eine Gallierin an. Dann isst er ein russisches Ei.

Michèle Thoma
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