Immer mehr frontaliers gehen in Luxemburg zum Arzt. Dahinter verbirgt sich ein Versorgungsproblem vor allem in Lothringen

Op Lëtzebuerg bei den Dokter

Französische frontaliers in einem Zug Richtung Lothringen
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 08.08.2025

Würden mehr Leute im nahen Ausland zum Arzt gehen, wäre das nicht schlimm. Dachte sich vor 16 Jahren die damalige Regierung. Das war, als in der EU die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung diskutiert wurde. 2011 trat sie in Kraft. Seitdem herrscht für einen Teil des Gesundheitswesens der EU-Staaten Dienstleistungsfreiheit am Binnenmarkt. Nur Auslandsbehandlungen, die mit einer Übernachtung in einer Klinik verbunden sind, müssen von der Krankenversicherung im Wohnsitzland vorab genehmigt werden. Für alles andere müssen die Krankenkassen zahlen – aber höchstens die bei ihnen gültigen Tarife. Die politische Überlegung in Luxemburg lautete 2008 und 2009: In den Nachbarländern sind die Kassentarife niedriger als hier. Also ließe sich Geld sparen, wenn Luxemburger/innen in Thionville, Trier oder Arlon zum Arzt gehen.

Ob die CNS auf diese Weise Geld gespart hat, ist schwer zu sagen. Geäußert hat sie sich dazu noch nie. Vergangene Woche veröffentlichte sie die Jahreskonten 2024 der Krankenversicherung. Darin steht, es sei „nicht möglich“, die Ausgaben für Binnenmarkt-Gesundheitsleistungen ohne Vorab-Genehmigung von solchen mit Genehmigung zu trennen (S. 49).

Stattdessen zeigt sich etwas Anderes: Immer mehr Grenzpendler/innen gehen in Luxemburg zum Arzt und zum Zahnarzt. Ohne Genehmigung und ohne EU-Richtlinie, denn sie sind hier krankenversichert und haben ein Recht darauf, im Großherzogtum versorgt zu werden. Die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) hat dazu einen Bericht geschrieben: „Recours aux soins de médecine et aux soins de médecine dentaire de part et d’autre des frontières“. Die Zahlen sehen stattlich aus: 26,7 Prozent der deutschen frontaliers, 28,8 Prozent der belgischen und 32 Prozent der französischen waren 2023 mindestens einmal in Luxemburg zum Arzt gegangen. Für alle drei Gruppen lag der Anteil rund zehn Prozentpunkte höher als 2015. Zum Zahnarzt in Luxemburg gingen Pendler/innen weniger oft: 7,5 Prozent der deutschen, 11,6 Prozent der französischen und 18,8 Prozent der belgischen. Gegenüber 2015 war das dennoch mehr. Bei den belgischen frontaliers war der Zuwachs mit knapp acht Prozentpunkten am größten.

Die Frage nach dem Warum drängt sich auf. Die IGSS hat das nicht untersucht. Ihr Bericht schlüsselt auch nicht auf, welche Arztdisziplinen unter welchen Umständen Pendler/innen in Luxemburg aufsuchen und wie oft. Kann sein, jemand ging in einem Jahr zehn Mal zu einem Allgemeinmediziner oder ein einziges Mal in die Notaufnahme eines hiesigen Spitals. Kann auch sein, die Arztkosten hängen mit einem stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus zusammen. In der IGSS-Statistik ist das jeweils eine Inanspruchnahme medizinischer Versorgung in Luxemburg pro Person. Aussagekräftiger für die Nachfrage ist der Kostenpunkt für die CNS-Krankenversicherung. Übermäßig groß ist er nicht, allerdings hat er seit 2015 im dreistelligen Prozentbereich zugenommen. Aber: Frankreich sticht hervor.

Denn wenn die CNS 2023 für Arztkosten französischer frontaliers in Luxemburg 28 Millionen Euro zahlte, war das fast genauso viel, wie sie für Arztleistungen in Frankreich selber ausgab. Und ein Zuwachs um 231 Prozent gegenüber 2015. Für Zahnarztleistungen französischer Pendler/innen in Luxemburg wandte die CNS mit über sechs Millionen Euro sogar mehr auf als die 5,3 Millionen für Zahnmedizin in Frankreich. Denkt man das damit zusammen, dass 2015 93 Prozent der französischen frontaliers in Frankreich zum Arzt gingen, dagegen 2023 nur noch 76 Prozent, könnte sich hinter den Zahlen ein Versorgungsproblem in Lothringen verbergen, dem die dort wohnenden Pendler/innen, CNS-versichert, wie sie sind, in Luxemburg zu entgehen versuchen. Könnte, weil hierzulande niemand etwas Genaues darüber sagt.

Nur Andeutungen gibt es. Beim Krankenhausverband FHL zum Beispiel wird beobachtet, dass nicht mehr nur in der Notaufnahme des Süd-Klinikums Chem französische frontaliers vorsprechen, sondern auch in der Hauptstadt in CHL und Hôpital de Kirchberg. Die CNS weiß, dass bestimmte Facharztdisziplinen in Lothringen sehr rar geworden sind. Zum Beispiel die Dermatologie: Um bei einem Hautarzt einen Termin in naher Zukunft zu bekommen, müsse man mittlerweile bis nach Dijon fahren; nicht mal in Metz sei die Dermatologen-Dichte groß genug.

Solche Befunde decken sich vielleicht mit dem Indikator, den in Frankreich die Direction de la recherche, des études, de l’évaluation et des statistiques (Drees) und das Institut de recherche et documentation en économie de la santé (Irdes) gemeinsam entwickelt haben, um „déserts médicaux“ aufzuspüren. Oder, wie sie das neutraler nennen, „les territoires directement concernés par un déséquilibre entre l’offre et la demande de soins“. Demnach hätten 2023 in Lothringen für 30 Prozent der Bevölkerung die Möglichkeiten zur Konsultation eines Allgemeinmediziners den nationalen Durchschnitt (3,3 Konsultationen pro Patient und Jahr) unterschritten. Laut einer interaktiven Karte der Drees, die L’Est Républicain auf seiner Internetseite publiziert hat, sind Gemeinden in unmittelbarer Grenznähe zu Luxemburg, wie Audun-le-Tiche (2,1 Konsultationen), Villerupt und Sierck-les-Bains (2,4) oder Longwy (2,7), davon betroffen. In der Nähe der größeren Städte Thionville und Metz wird der nationale Schnitt überboten.

Für Luxemburg zieht medizinische Wüstenbildung im grenznahen Frankreich wahrscheinlich weniger ein Kapazitätsproblem für die Gesundheitsversorgung hierzulande nach sich, wenn frontaliers verstärkt auf sie zurückgreifen, als eine politische Herausforderung zur Zusammenarbeit innerhalb einer „Metropolenregion“ mit Luxemburg als Kern und Schlafgemeinden hinter der Grenze. In der belgischen Province de Luxembourg könnte sich in den nächsten Jahren auch ein Problem stellen. Bis 2030 will die Klinikstiftung Vivalia bei Habay ein neues Centre hospitalier régional eröffnen. Die Spitäler in Arlon und Bastogne sollen nach und nach in Cliniques de proximité umgewandelt werden. Das ist riskant, weil in Belgien die Krankenhausmedizin – außer in Universitätskliniken – mit freiberuflichen Ärzt/innen funktioniert wie auch in Luxemburg größtenteils. Ein Wegfall an Arbeitsmöglichkeiten an kleinen Kliniken macht automatisch das Praktizieren überhaupt weniger attraktiv und kann zum Abwandern von Ärzt/innen führen. Träte das ein, bekäme es die Patientenschaft in Arlon, Virton, Bastogne zu spüren. CNS-Versicherte unter ihnen könnten sich mehr nach Luxemburg wenden. Wer nicht CNS-versichert ist, wütend werden, oder es schon sein: Auf die Ankündigung Vivalias zur Rückstufung der Kliniken in Arlon und Bastogne hin gab es Proteste.

Was sich strukturell in den Grenzregionen tut und wer von dort Gesundheitsleistungen hierzulande nachfragt, ist für Luxemburg Teil und Symptom einer Zäsur. Noch lockt das Großherzogtum Pflegepersonal aus dem Ausland mit hohen Gehältern fort, Mediziner/innen mit guten Tarifen in der Gebührenordnung der Ärzte und Zahnärzte. Seit den Achtzigerjahren konnte Luxemburg sich darauf verlassen, dass junge frontaliers die Sozialversicherung mit ihren Beiträgen stützten, dabei weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch nahmen als die Ansässigen. Mit Letzterem ist allmählich Schluss – die Arbeitskräfte-Reservoirs in Belgien und Deutschland geben nichts mehr her. Nun kommt hinzu, dass mit den Grenzregionen zum beiderseitigen Vorteil kooperiert werden muss.

Trägt die Regierung dem Rechnung? Gesundheits- und Sozialministerin Martine Deprez (CSV) erklärte dem Land im Januar: „Mit den Nachbarregionen müssen wir politische Gespräche über ein ‚Wer macht was und wo?‘ führen.“ Darüber, dass Luxemburg Gesundheitspersonal aus den Nachbarregionen abwirbt, auch (d’Land, 10.1.2025). Die scheidende Botschafterin Frankreichs in Luxemburg, Claire Lignières-Counathe, sagte dem Land vor zwei Wochen: „On est en train de réfléchir à la façon dont les habitants pourraient accéder à des médecins spécialisés des deux côtés de la frontière, selon les besoins et en bénéficiant de bonnes conditions de remboursement.“ Die Gespräche fänden in einer Commission intergouvernementale pour le renforcement de la coopération transfrontalière statt. „Nous travaillons aussi sur la formation des soignants“ (d’Land, 25.7.2025).

Vielleicht bleibt nicht mehr viel Zeit für Ergebnisse. Man stelle sich vor, dass 2027 ein Kandidat des Rassemblement National die Präsidentschaftswahlen gewinnt und vielleicht Quoten für französisches Gesundheitspersonal in Luxemburg einführen lässt. Nachdem unter anderem wegen „déserts médicaux“ empörte Wähler/innen in Lothringen ihr Kreuz beim RN gemacht haben. Man erinnert sich, dass bei den Gemeindewahlen in Frankreich 2014 Hayange an den RN fiel. Das dortige Krankenhaus hatte kurz vorher seine Notaufnahme geschlossen.

Peter Feist
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