Attentate von Brüssel

Europa en miniature

d'Lëtzebuerger Land vom 01.04.2016

Belgien sei, so heißt es oft, Europa en miniature. Die Nationalitäten der Opfer der Brüsseler Attentate bestätigen das. Menschen aus über 40 Ländern, die meisten europäisch, sollen unter den Toten und Verletzten der Selbstmordattentate am Brüsseler Flughafen Zaventem und in der Metrostation Maelbeek sein. Letztere liegt mitten im Europaviertel dicht bei den Hauptgebäuden von Kommission und Ministerrat und unweit des Europäischen Parlaments. Die Attentate galten nicht in erster Linie Belgien, sie galten Europa. Sie haben Belgien und Europa ins Herz getroffen. Wer nur ein bisschen die Geografie der europäischen Hauptstadt kennt, weiß, dass die relativ unbekannte Metrostation Maelbeek mit ihren schwarzen Strichmännchen auf weißen Kacheln, viel mehr im Herzen des Europaviertels liegt als der große Nachbar, der weltbekannte Rond Point Schuman. Der Ort für diese schreckliche Tat war mit Bedacht ausgewählt worden.

Nicht wenige, die für die europäischen Institutionen arbeiten, haben ein Attentat schon seit Jahren erwartet. Und weil diese große Stadt dann doch sehr klein ist, ist auch ein jeder betroffen. Man kennt ein Opfer oder man kennt jemanden, der ein Opfer kennt, oder die Schwester des besten Freundes des Sohnes hat in der U-Bahn gesessen, die zwei Minuten vor der gesprengten U-Bahn fuhr... Brüssel trauert um seine Toten und um sich selbst.

Brüssel trauert, aber es fragt auch. Niemand will die Attentate einfach so hinnehmen. Die Frage, wie genau es zu den Attentaten gekommen ist und warum es nicht möglich gewesen ist, sie zu verhindern, beschäftigt die belgische und europäische Presse. Und wie so oft wird auch hier wieder nach kürzester Schamfrist mit den Toten Politik gemacht.

Die ersten waren die Polen. Die polnische Ministerpräsidentin Beate Szydlo brauchte gerade einmal einen Tag, um wegen der Attentate eine von der Vorgängerregierung zugesagte Aufnahme von Flüchtlingen zurückzunehmen. Sie dürfte den Terroristen klammheimlich dankbar sein. Belgien fragt sich seit Tagen, ob seine teils – Ceci n’est pas une pipe – surrealistische Staatsstruktur nicht entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Attentate überhaupt passieren konnten. Dies ist im Einzelnen zu untersuchen, der entsprechende Untersuchungsausschuss wird dieser Tage vom belgischen Parlament eingesetzt. Und dennoch: Der Terror schon viele europäische Länder getroffen. Spanien, Großbritannien, Frankreich zum wiederholten Mal und nun auch das „Laissez-faire-Belgien“, das von außen heftig wegen seiner offensichtlich chaotischen Herangehensweise kritisiert wird.

In welchem Land stellt man sechs Tage nach dem Attentat verwundert fest, dass man die Toten nicht korrekt gezählt hat, weil für diese Auflistung das Gesundheitsministerium und nicht das Krisenzentrum zuständig ist? Und in welchem Land wird ein Krimineller, der nach einem Angriff mit einer Kalaschnikow auf Polizisten zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, nach vier Jahren auf Bewährung freigelassen? Und der erst zwei Monate, nachdem er zu einem Termin bei seinem Bewährungshelfer nicht erschienen ist, zur Fahndung ausgeschrieben wird, zur nationalen wohlgemerkt und nicht zur internationalen? In welchem Land weiß weder die Staatsanwaltschaft noch der zuständige Richter, dass sich der Betreffende inzwischen radikalisiert hat und versucht hat nach Syrien einzureisen, an der syrisch-türkischen Grenze aber aufgegriffen und als Terrorverdächtiger in die Niederlande abgeschoben wurde? Das Dossier des zuständigen Richters für Ibrahim El Bakraoui enthält alle diese Daten nicht. Am 22. März sprengte er sich am Flughafen Zaventem in die Luft. Das hätte, wie vieles, verhindert werden können. Welches Land ist unfähig, 400 faschistische Hooligans daran zu hindern, die spontane Gedenkstätte der Brüsseler für ihre politischen Zwecke zu missbrauchen? In welchem Land streitet man sich darüber, ob und wann der U-Bahn-Betreiber eine Anweisung zur Schließung bekommen hat oder nicht? Und in welchem Land ist es wichtiger, in der Stunde der Not einander die Schuld zuzuschieben anstatt zusammenzustehen?

Belgien ist Europa in miniature. Auch in der EU weiß der eine Dienst nicht, was der andere tut. Es ist beinahe billig, mit dem Finger nach Belgien zu zeigen. Genauso wie Belgien macht auch Europa seit Jahren seine Hausaufgaben nicht. Kein nationaler Geheimdienst teilt seine Informationen freiwillig und einen echten europäischen Geheimdienst gibt es nicht. Nach jedem Terroranschlag treffen sich die EU-Innenminister und geloben feierlich, den Informationsaustausch zu verbessern. Bisher sind sie daran immer so kläglich gescheitert wie die Eurostaaten an ihren Stabilitätsverpflichtungen.

Belgien kann das Dilemma zwischen wünschenswerter Regionalisierung und notwendiger zentraler Gewalt genauso wenig auflösen wie die EU. Jede weitere Integration wäre wie ein Katalysator, der den in mehr als 60 Jahren fein austarierten europäischen Bund von Staaten in einen föderalen Bundesstaat verwandeln würde. Europa steht in vielen Politikfeldern vor einer Mauer, die es nicht überschreiten kann, die es aber überschreiten muss, wenn es seine Probleme lösen will. Statt zum Sprung anzusetzen, versuchen die Politiker das etablierte System immer mehr zu verfeinern. Genau das hat Belgien in den vergangenen Jahrzehnten getan. Belgien kann dem Terror nicht alleine die Stirn bieten, Flandern, Brüssel oder die Wallonie noch weniger. Das Land muss sich dringend reformieren und die Überregionalisierung zurückdrehen. Für die EU sieht das ähnlich aus. Heute trägt Versagen viele Adjektive. Menschlich, belgisch, europäisch sind nur drei davon.

Christoph Nick
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