Die kleine Zeitzeugin

Der Osten, das unbekannte Wesen

d'Lëtzebuerger Land vom 06.09.2024

Die Hunnen kamen von dort, die Mongolen, erforscht ist das Gebiet noch immer nicht. Trotz aller Bemühungen. Die Suchtrupps, die da unterwegs sind. Die Journalist/innen, die in Schwärmen das Land heimsuchen, auf der Suche nach dem endgültigen Satori. Why, tell me why? Osten, wer bist du? Gib dich endlich preis! Hier ist der Westen, der mit der Logik und den Werten, also denen, auf die es ankommt, aber was machst du, warum machst du nicht mit?

Die Kameras, die draufgehalten werden. Auf die Wunde. Aber die ist doch längst verheilt. Die Narben. Die Operationsnähte. Die Amputationen, die Phantomschmerzen, das Zusammengeflickte. Noch immer nicht zusammengewachsen? Kamera drauf. Oder? Oder doch? Die blühenden Landschaften, aus denen etwas abrupt Plattenbauten ragen, Denkmäler. Aus einer Zeit, von der es Zeit wird, dass sie vergessen wird, sie war eine Art Irrtum der Geschichte. An was anderes denken.

Was denken Sie? Was denken Sie, Ostmensch? Was fühlen Sie? Fühlen Sie sich übergangen? Untergegangen? Die Diktatur war doch auch nicht das Gelbe vom Ei. War es eine Diktatur? Sagen Sie was Sie denken, Ostmensch! Aber was denken Sie denn da! Ist es nicht langsam an der Zeit, weiterzudenken? Umzudenken? Denken Sie an was Schönes! Das kann doch nicht Höcke sein!

Es war ja nicht alles schlecht. Darf man das sagen? Manche mauerten ja. Sahra Wagenknecht hat nicht abgeschworen, damals, man muss darauf hinweisen. Als das Land ihrer Kindheit verschwand wie ein Spuk. Für den neuen Spuk war sie nicht gleich bereit. In die Hände zu spucken.

Wie lang dauert denn das noch, so was? So ein Genesungsprozess? Genesung von einer Krankheit, die 40 Jahre dauerte. War doch eine Krankheit, oder, da sind wir uns doch einig, eine lange, eine chronische, eine Systemkrankheit? Aber warum ist der Osten jetzt so abwehrschwach und der Volkskörper befallen? Und: Ist das ansteckend? Wie geht es dem Osten wirklich? Es gibt ja jetzt so viele Arten von Ostitis, den Oststolz und die Ostscham und den Osttrotz, what else?, all diese seltsamen Befindlichkeiten, wir brauchen dringend einen Befund.

Ihr Herr/innen Ostexpert/innen, die ihr in den Talkshows grübelt, ihr authentischen Mauermenschen mit Echtheitszertifikat und ihr Liebhaber/innen-Ossis, die ihr eingewandert seid aus Liebe zu diesem unzugänglichen Gebiet, wirklich sehr verwegen, vielleicht könnt ihr es uns erschließen? Was ist es, was Sie da suchten? Da, dort. Und was war, als Sie auf den Ossi aus dem kollektiven Alptraum stießen? Den Nazi in Nachbars Garten? Ist er wirklich… sooo?

Die Schriftstellerin Juli Zeh hat ihn beschrieben, es ist eine Art Liebesgeschichte, liebe deinen Nächsten! Und ganz viele Schriftstellerinnen schreiben jetzt über den Osten, aber manchen fehlt anscheinend die Befugnis, sie schreiben aus der falschen Perspektive oder haben nicht die richtige Herkunft, manche werden gar als Ost- Hochstapler/innen enttarnt.

Was haben wir, schluck, falsch gemacht? Die Nostra-Culpa-Wessis wollen die Absolution. Sie erteilen sie sich. Nichtsnichts, wir haben nur gemacht, der Westen macht immer, der Westen macht eben immer. Macht was er kann. Er kann Macht. Er kann nichts dafür.

Es ist doch jetzt alles so schön restauriert. Pastellfarben. Das Ostgrau ist ziemlich weg. Die Frauen auch. Nicht mal Zigaretten holen. Sondern weil hier Ende Gelände. Die Männer sind allein. Lauter Kevins allein zuhaus. Die Männer sind allein zuhause mit ihren Zigaretten. Sie sind von allen guten Geistern verlassen, leider auch Körpern, weiblichen. Da kommen sie auf so Gedanken. Da kommt Mann auf so blöde Gedanken. Sie laufen mit Fahnen herum und die niederen Triebe brechen aus.

Bleibt der Osten wenigstens im Osten? Bleibt er wenigstens unter sich? Oder können auch wir Osten kriegen? Was hier kommt, wird im Westen auch kommen, sagt Chrupalla, etwas dräuend. Chrupalla ist der Herr mit dem dauerunterdrückten Grinsen, aber manchmal bricht das Grinsen ihm aus und eine Mulmigkeit erfasst die Runde. p

aMichèle Thoma
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